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Heidelberger Volksblatt (9) — 1876

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Nr. 26 - Nr. 34 (1. April - 29. April)
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eidelberger Volksblatt.

Nr. 8½.

Samſtag, den 22. April 1876.

Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonn
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

irt beim Verleger, Schiffgaſſe 4

Der Geiger.
Ein Lebensbild aus dem Franzöſiſchen von Bentgen.
Cortſetzung.)

Aber, ſagte ich, dies iſt doch kein chriſtlicher Geſang?
Ach was, erwiderte mein Matroſe, glaubt Ihr, daß
er danach fragt? Dieſer alte Einſiedler nimmt ſeine
Todtengeſänge, wo er ſie findet. ö
Was meint Ihr, frug ich, wenn wir hier anlegten?
Um ihn anzureden? gab der Matroſe zur Antwort.
Da würden wir ſchlecht ankommen. Trotz ſeiner Litanel
fürchtet er ſich wie ein kleines Kind vor Allem, was
ihm naht. Vor einiger Zeit ließ ſich ein engliſcher Rei-
ſender, der Jobs Geſchichte gehört an nach Sawrot
führen, einzig zu dem Zweck, um ihm Rine neue Geige
— und zwar eine gute — zu verſprechen, wenn er dieſem
ſeiner Metnung nach müßigen und verdummenden Leben
entſagen wolle. — Sie muſſen naͤmlich wiſſen, die Eng-
länder ſind Ketzer und begreifen nicht, daß man ſich ka-
ſteien mag. Was that Job? — Er machte ein großes
Kreuz und that den Schwur, niemals wieder einem Frem-
den Gehör zu ſcheaken. Sie würden nur Ihre Zeit
verlieren, ohne etwas zu erreichen. — Der Burſche ru-
derte mit ſolcher Anſtrengung, als handelte es ſich da-
rum, der Peſt zu entfliehen — wir haben hier nichts
mehr zu ſuchen.
Die Lamentationen wurden immer ſchwächer und
hörten endlich ganz auf. Unſer Nachen mußte, um den
Hafen zu erreichen, am Fuß der Schloßruine vorbei. Ich
glaubte Jeannie zu bemerken, die da ftand und mit der
Hand über den Augen in's Meer blickte.
Von hier aus kann ſie ihn doch nicht höͤren, ſagte
mein Schiffer, und doch ſieht man ſie alle Tage um die
Zeit, wenn er ſeine Gebete adſingt, auf der Mauer des
alten Schloſſes ſtehen. In der erſten Zeit waren noch
viele Leute mit ihr gekommen, aber Alles hört mit der
Zeit auf, und nachdem man ſich ſo viel mit dem Gei-
ger beſchäftigt hatte, weiß man kaum mehr, ob er noch
lebt oder nicht. Jeannie Kerlanou macht eine Ausnahme.
Dieſes Mädchen, das muß man ihr laſſen, vergißt nicht,
was Job Gutes an ihr gethan hat. — Man kann das
vielen ſogenannten ehrlichen Leuten nicht nachrühmen.
3. ö
Eines ſchönen Tages hörte Jeannie nicht mehr die

Stimme des Einſiedlers über die Wellen herüberſchallen.
Ohne ſich ſelbſt Rechenſchaft darüber geben zu können,
empfand ſie eine ſolche Unrahe, daß ſie ganz gegen ihre
Gewohnheit ein um's andere Mal ihre Arbeit im Stich
ließ, um nach dem Strand zu laufen, aber nur das
Echo gab auf ihr Rufen Antwort. Am andern Tag
dasſelbe unheimliche Schweigen Sollte ihm irgend etwas
zugeſtoßen ſein? Unfähig ihre Angſt länger für ſich zu
behalten, theilte ſie ihrem Bruder ihre Befürchtungen
mit, worauf dieſer in ſeiner rohen Art erwiderte: Wer
weiß, er iſt am Ende gar geſtorben, weil er dies ſo ſehr
wünſchte. ö
Bei dieſen wenig tröſtlichen Worten zog ſich das Herz
des armen Mädchens krampfhaft zuſammen. Sollte auch
dieſer Schlag nach ſo vielem Unglück noch ko nmen? Sie
wunderte ſich ſelöſt über den Schrecken, den ihr der
bloße Gedanke an ſeinen Tod einflößte, als wenn dies
das Schlimmſte wäre von Allem, was ſie ſeither erlebt.
Warum? Sie ſah ja Job nicht mehr, es war für ſie
nichts mehr, ſo wenig wie für irgend Jemanden und
dennoch war die Stunde, wenn fie ihn ſinzen hoͤrte, die

einzige des ganzen Tags, ia welcher ſie ſich nicht gänz-

lich verlaſſen fühlte. Da fiel ihr plötzlich ein, indem ſie
alle Möglichkeiten berdachte, wenn ſie die Zeit der Ebbe
benutzte, um nach Lavret zu gehen, ſo könnte ſie vor
Sonnenuntergaug wieder zurück ſein. Sie könnte ſich
auf dieſe Art Gewißheit über Jobs Schickſal verſchaffen,
das ſie ausſchließlich beſchäftigte und was ihm auch
immer begegnet ſein möchte, das Schlimmſte war im
Augenblick für ſie dieſe quälende Ungewißheit. Aber ein
Gefühl hielt ſte wieder zurück. Vielleicht würde er nur
böſe werden, ſazte ſie zu ſich ſelbſt und ſicherlich wür-
den ſie mich zu Hauſe darüber ausſchelten. Während ſie
noch ſo unentſchloſſen hin und her ſchwankte, kam der
kleine Hirte, deſſen Heerde auf Ladret weidete, vorüber
und trug einen Topf mit Milch. — Da ſieh, ſagte er
ſehr vergnügt zu Jeannie, was mir Job Sainker dafür
gezeben hat, daß ich ihm ſeine Kühe gemelken habe.
Er melkt ſie alſo nicht ſelbſt? frug das Mädchen;
ſie wagte nicht eine mehr direkte Frage zu thun.
Das muß er wohl bleiben laſſen, antwortete der
junge Burſche, denn er liegt krank auf ſeiner Streu und
kann weder Arme noch Beine rühren. ö
Dabei pfiffer ſeinen Ziegen und ging ſeiner Wege.
Jeannie hatte bereits den entgegengeſetzten Weg einge-
ſchlagen. Sie ging, ohne welter zu überlegen, den mit
 
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