Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Volksblatt (9) — 1876

DOI Kapitel:
Nr. 26 - Nr. 34 (1. April - 29. April)
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.44635#0128

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
12²

ſchlöpfrigem Seegras dicht bewachſenen und vielfach zer-
ſtoͤrten Weg, auf dem der Sage nach in der Vorzeit
zwölf ſchöne, in Scharlach gekleidete Jungfrauen vom
Schleß zu Brohat nach der Kirche von Lavret gingen,
rm dort die Meſſe zu hören. Aller Wahrſcheinlichkeit
nach iſt das Meer ſeitdem geſtiegen, denn dieſer ſoge-
nannte Weg iſt jetzt nur während der kurzen Zeit voll-
ſtändiger Ebbe gangbar. Den zarten Füßchen dieſer edlen
Schloßdamen zu Lie be muß man ebenfalls annehmen,
daß die Steine damals feſter gelegen und beſſer inein-
ander gepaßt waren, als ſie es heut zu Tage unter
ihrem dicken Pelz von Seegras ſind, wo fie einer Un-
zahl von Muſchelthierchen und Krabben als Zufluchts-
ort dienen.
Die kleine Reinette, die bereits groß genug war,
um allein laufen zu können, wollte alle Augenblicke
ſtehen bleiben und den Thierchen nachjagen, das Ent-
zücken der Kinder von Brohat. Um das Kind zu ra-
ſcherem Gehen zu veranlaſſen, erzählte ihr Jeannie von
dem armen Manne, dem ſie helfen wollten. Es war
überhaupt ihre Gewohnheit, der Kleinen Alles mitzu-
theilen, was ſie auf dem Herzen hatte. Sie nährte das
Kind noch, als ſie es ſchon zur Vertrauten all ihrer
Angelegenheiten machte; das arme Geſchöpf hatte ja
ſonſt Niemanden und da jie ſich unabläſſig vorwarf,
das kleine Weſen auf einen zu rauhen Lebenspfad ge-
worfen zu haben, erblickte ſie im Lächeln ihres Kindes
gleichſam ihre Verzeihung dafür. Seit Reinette gelernt
hatte, den Ausdruck des Gefichts und der Stimme, ob
mehr oder weniger traurig zu unterſcheiden, tröſtete ſie
mit einem Verſtändniß und einer Liebenswürdigkeit, die
über ihr Alter ging, die Mutter mit einer Liebkoſung,
der einzige Troſt, der in ihrer Macht lag. Inſtinktartig
begriff das Kind, daß ihre Mutter nur ſie allein auf
der Welt hatte. Sie zeichnete ſich auch durch die Sanft-
muth und demüthige Folgſamkeit aus, die den Kindern
eigen iſt, die weit entfernt, von der Wiege an gebätſchelt
zu werden, vielmehr genöthigt ſind, zu begreifen, daß
fie ſich das Wohlwollen feindſelig geſinnter oder doch
mindeſtens gleichgültiger Menſchen erwerben müſſen. Sie
war die Tochter des Aſchenbrödels. In den Haͤuſern,
in denen ſie geduldet wurde, war ſie ſtill und ruhig,
wenizer, um nicht ſelbſt geſcholten zu werden, als um
ihrer Mutter keine Vorwürfe zuzuziehen. Sobald dieſe
zu ihr ſagte: Wenn Du mich aufhältſt, ſo werden
Deine Onkel böſe und ſchelten mich, lief das kieine Ting
ſo ſchnell die nackten Füßchen nur immer konnten, ohne
ſich durch irgend etwas zerſtreuen zu laſſen.
Indeſſen diesmal wurde es bei allem guten Willen
der armen Kleinen doch ſchwer, von einem Stein zum
andern zu ſpringen und ſo nahm der Weg eine ziemlich
lange Zeit in Anſpruch. Jeannie berechnete, daß nach
Verlauf einer Stunde die Fluth bertits kommen könnte.
In welchem Zuſtand würde ſie Job antreffen? Wie oft
legte ſie ſich während des endlos langen Weges dieſe
Frage vor.

Ihre Füße trugen ſie kaum mehr, als ſie ſich der

elenden Hütte näherte, deren Thür ans Zweigen zu-
ſammengeflochten, durch einen Stein zugehalten wurde.
Sie klopfte mehrmals und immer ſtärker. Als ſie keine
Antwort erhielt, blickte ſie durch eine kleine Oeffnung,
die als Fenſter diente, in's Innere der Hütte. Auf
einem Lager von trockenem Seegras ſtöhnte eine Geſtalt,
die fie zuerſt fuͤr einen Greis hielt. Job hatte ſeinen
Bart wachſen laſſen und ſeine langen Haare fielen un-
gekämmt und wirr über ſeine hagern faſt leichenhaft
bleichen und entſtellten Züge. Ohne gerade ſchon zu
ſein, war doch der Geiger früher eine angenehme Er-
ſcheinung geweſen. Die Lebhaftigkeit ſeines Blickes und
die Heiterkeit der Jugend, einer Jugerd, die unabhängig
von den Jahren, die des Herzens iſt, nahmen ungemein
für ihn ein, und man kann ſich Iꝛannie's Erſchrecken
denken, wie ſie ihn jetzt ſo völlig verändert daliegen ſah.
Seine Hände, die auf der groben braunen wollenen
Decke lagen, waren mehr aus Verzweiflung zuſammen

gekrampft, als zum Gebet gefaltet.

Jeannie's Kopf hatte die Sonnenſtrahlen, die durch
die Fenſteröffnung herein ſchienen, unterbrochen, er öffnete
die Augen, die durch das Firber außergewöhnlich glänzend
und vergroͤßert waren und murmelte ſchwach: Endlich
kommt Ihr mich zu holen! Als darauf die Thür lang-
ſam und furchtſam geöffnet wurde, ſagte er noch trau-
riger, wie Jemand, der ſich in ſeiner Erwartung ge-
täuſcht ſieht: Du biſt es nur, Jeannie? ö
Ach! antwortete ſie, Gott weiß es, daß ich gerne
mein Leben hingeben würde, wenn ich Euch Diejenigen
wiedergeben könnte, die Ihr erwartet; aber da, wo ſie
ſind, können die theuern Seelen weiter nichts thun, als
auf Euch hoffen und für Euch beten und ſie haben mich
zu Euch geſchickt. ö ö
Ich glaube Dir, ſtammelte er, ich glaube Dir! —
Oabei ftreckte er wechaniſch die Arme aus, in welche
Jeannie, trotz allen Sträubens die kleine Reinette legte.
Der letzte, den ich verloren habe, war gerade ſo
alt, ſagte Job, nachdem er das Kind eine Weile finſter
ſinnend betrachtet hatte.
Das goldene Kreuz, das die Kleine ſeit Mahorits
Tode ſtets getragen, zog plöͤtzlich ſeine Aufmerkſamkeit
auf ſich. ö
f Mabort!- rief er aus und preßte den kleinen
Schmuckgegenſtand mit ſolcher Heftigkeit an ſich, daß
das Kind zu ſchreien begann.
„Mahorit!“ rief der Mann zu wiederholten Malen.
Er zerfloß in Thränen. Jeannie weinte mit und
ſeit langer Zeit wurde es dem armen Dulder etwas
leichter um's Herz.
Mein Gott, fing endlich Jeannie an, indem ſie ver-
wundert und traurig umherſah, wie köent Ihr nur hier
leben, Job?
Bald werde ich nicht mehr allein ſein, antwortete
er und deutete dabei nach dem Himmel mit einem Aus-
druck, der mehr als alle Worte die Marter bewies,
welcher dieſe geſellige Natur, dieſe mittheilſame Seele
ſich freiwillig unterzog.
 
Annotationen