Heidelberger Volksblatt.
Nr. 18.
Mittwoch, den 16. Februar 1876.
9. Jahrg.
Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.
Aus dunkler Zeit.
Sittenbild von Marie von Roskowska.
(Fortſetzung.)
Mit Würde erhob ſie den Kopf. „Von mir iſt hier
nicht die Rede, Herr! An Ihrer Stelle hätte ich nim-
mer einen Schritt gethan, der jeder Jungfrau unziem-
lich iſt, der Hochſtehenden nicht minder als der Niedrig-
geborenen. Da ſie ihn dennoch that, ſeid Ihr der Rich-
ter über ihre ferneren Schritte, dürft noch weniger von
Rache reden.“
„Die Jungfrauen ſcheinen hier Alle kühlen Herzens
und klaren Verſtandes“, ſpottete er. „Ihr würdet Euch
wahrſcheinlich auch nicht lange bedenken, ſchönſte Maid,
—.— Liebſten unter die Hand des Meiſters Henker zu
iefern.“ ö ö
Darauf hatte ſie keine Antwort — welche auch? Sie
beſchäftigte ſich ſchweigend mit der Lampe.
Heftiger fuhr er fort: „Sonſt würdet Ihr den
ſchmählichen Verrath des edeln Fräuleins nicht ver-
theidigen. Oder iſt es etwa nicht ſchmählicher Verrath,
mir freiwillig, wie Du ſelber bezeugen kannſt, bis zum
Thor zu folgen, dann aber um Hilfe zu rufen, über
Gewaltthat zu ſchreien?“
Erſchreckt faltete ſie die Hände, ſie hatte das ja nicht
gewußt, ſondern gemeint, die Flucht ſei zufällig vereitelt
worden, man nehme aber, durch irgend einen ihr unbe-
kannten Umſtand veranlaßt, an, die Enkeltochter der En-
weſe. ſei nicht ſelber zu dieſem Ritt entſchloſſen ge-
eſen.
„Sie wußte, daß ſie mich damit in einen Handel
ſtürzte, der mein Leben koſtete, wenn —“ Grollend
vallte er die Hand. „Jedes Kind weiß das. Und wenn
es nothwendig geweſen, die Beſchuldigung auf mich zu
werfen, um ihre eigene Ehre zu rechtfertigen! Es wäre
dann wenigſtens verzeihlich. Aber ſie hatte es überhaupt
nicht nöthig, um Hilſe zu rufen. Ich hatte ſie nicht
gezwungen, mit mir zu gehen, wenn ſie es nicht frei-
willig that. Ein einziges, offenes Wort hätte ſie von
mir befreit. Nach der erſten Aufregung hätte ich es ihr
gar nicht einmal verdacht, daß ſie zurückbebte, als ſie
hörte, ich ſei ein armer Spielmann, obgleich ſie mich
als ſolchen kennen lernte.“
Benigna begriff das Alles nicht, ſchüttelte den Kopf
und blickte ihn theilnehmend an. Obhgleich er ſelber Un-
recht gethan, — ihm war jetzt auch Unrecht geſchehen
und zudem ein großes, ein ſchweres Leid widerfahren.
Ja, es dünkte ſie das größte, das ſchwerſte Leid, das
einen Menſchen treffen kann — dieſes kalte, rückſfichts-
loſe und auf ſich bedachte Abwenden des Herzens, welches
man liebt, deſſen Neigung man ſicher zu ſein glaubt.
Wohl machte ſie einen Verſuch, die Jugendgeſpielin
durch den plötzlichen, überwältigenden Schrecken, durch
eine augenblickliche Geiſtesabweſenheit zu entſchuldigen.
Aber er hörte es aus ihrem Ton, daß ſie ſelber nicht
an dieſe Entſchuldigungsgründe glaubte und bitteres Weh
empfand, daß fie nicht daran glauben durfte. Wenn
Engelbrechta ihm mit dieſer maßloſen Liebe zugethan
war, welche man vorausſetzen mußte, dann konnte ſie
ihn unter keinen Umſtänden verrathen. Liebte ſie ihn
aber nicht über Alles, wie hatte ſie ihm denn ſo weit
folgen können? — Dann fand dafür auch der mildeſte
Sinn keine Rechtfertigung. Und nun, was ſollte nun
werden, vornehmlich dann, wenn es dem Unglücklichen
nicht zu entkommen gelang? — Blaß und verſtört blickte
Benigna ihn an.
„Ich ſollte mich ſelber dem Rathe ſtellen und die
Wahrheit ſagen“, begann er zwiſchen Hohn und Bitter-
keit, wie er bisher faſt immer geſprochen hatte. „Gäbe
das eine artige Läſtergeſchichte für alle beweglichen Znn-
gen der Stadt und der Gegend in weitem Umkreiſe —“
Angſtvoll und bittend richtete das Mädchen die ſpre-
chenden Augen auf ihn. ö
„Fürchte nichts — ich ſcherze nur. Schon um Dei-
netwillen, die als Zeugin in der Geſchichte eine Rolle
zu ſpielen hätte, ſteh: ich davon ab. Auch un anderer
Gründe willen. Aber darum ſoll ſie —“ Er biß ſich
finfter auf die Lippen. „Doch laß uns nicht weiter da-
von reden.“
Er ſtützte die Stirn in die Hand, grübelte über das
was geſchehen war und noch mehr über das, was ge-
ſchehen ſollte. Erſt allmählig entriß er ſich ſeinen Ge-
danken und Plänen und blickte in dem dürſtigen Gemach
umher.
Sie hatte für ihn den beſten Stuhl an den Tiſch
gerückt, trug ſpäter auf, was ſich in dem mehr als be-
ſcheidenen Speiſeſchranke vorfand und ſpann dann fleißig.
Wohl mußte ſie ſich Mühe geben und mit Gewalt ihre-
Aufmerkſamkeit darauf richten, damit nicht Knoten über
Knoten in den Faden kamen. Draußen war es auch ſo
Nr. 18.
Mittwoch, den 16. Februar 1876.
9. Jahrg.
Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.
Aus dunkler Zeit.
Sittenbild von Marie von Roskowska.
(Fortſetzung.)
Mit Würde erhob ſie den Kopf. „Von mir iſt hier
nicht die Rede, Herr! An Ihrer Stelle hätte ich nim-
mer einen Schritt gethan, der jeder Jungfrau unziem-
lich iſt, der Hochſtehenden nicht minder als der Niedrig-
geborenen. Da ſie ihn dennoch that, ſeid Ihr der Rich-
ter über ihre ferneren Schritte, dürft noch weniger von
Rache reden.“
„Die Jungfrauen ſcheinen hier Alle kühlen Herzens
und klaren Verſtandes“, ſpottete er. „Ihr würdet Euch
wahrſcheinlich auch nicht lange bedenken, ſchönſte Maid,
—.— Liebſten unter die Hand des Meiſters Henker zu
iefern.“ ö ö
Darauf hatte ſie keine Antwort — welche auch? Sie
beſchäftigte ſich ſchweigend mit der Lampe.
Heftiger fuhr er fort: „Sonſt würdet Ihr den
ſchmählichen Verrath des edeln Fräuleins nicht ver-
theidigen. Oder iſt es etwa nicht ſchmählicher Verrath,
mir freiwillig, wie Du ſelber bezeugen kannſt, bis zum
Thor zu folgen, dann aber um Hilfe zu rufen, über
Gewaltthat zu ſchreien?“
Erſchreckt faltete ſie die Hände, ſie hatte das ja nicht
gewußt, ſondern gemeint, die Flucht ſei zufällig vereitelt
worden, man nehme aber, durch irgend einen ihr unbe-
kannten Umſtand veranlaßt, an, die Enkeltochter der En-
weſe. ſei nicht ſelber zu dieſem Ritt entſchloſſen ge-
eſen.
„Sie wußte, daß ſie mich damit in einen Handel
ſtürzte, der mein Leben koſtete, wenn —“ Grollend
vallte er die Hand. „Jedes Kind weiß das. Und wenn
es nothwendig geweſen, die Beſchuldigung auf mich zu
werfen, um ihre eigene Ehre zu rechtfertigen! Es wäre
dann wenigſtens verzeihlich. Aber ſie hatte es überhaupt
nicht nöthig, um Hilſe zu rufen. Ich hatte ſie nicht
gezwungen, mit mir zu gehen, wenn ſie es nicht frei-
willig that. Ein einziges, offenes Wort hätte ſie von
mir befreit. Nach der erſten Aufregung hätte ich es ihr
gar nicht einmal verdacht, daß ſie zurückbebte, als ſie
hörte, ich ſei ein armer Spielmann, obgleich ſie mich
als ſolchen kennen lernte.“
Benigna begriff das Alles nicht, ſchüttelte den Kopf
und blickte ihn theilnehmend an. Obhgleich er ſelber Un-
recht gethan, — ihm war jetzt auch Unrecht geſchehen
und zudem ein großes, ein ſchweres Leid widerfahren.
Ja, es dünkte ſie das größte, das ſchwerſte Leid, das
einen Menſchen treffen kann — dieſes kalte, rückſfichts-
loſe und auf ſich bedachte Abwenden des Herzens, welches
man liebt, deſſen Neigung man ſicher zu ſein glaubt.
Wohl machte ſie einen Verſuch, die Jugendgeſpielin
durch den plötzlichen, überwältigenden Schrecken, durch
eine augenblickliche Geiſtesabweſenheit zu entſchuldigen.
Aber er hörte es aus ihrem Ton, daß ſie ſelber nicht
an dieſe Entſchuldigungsgründe glaubte und bitteres Weh
empfand, daß fie nicht daran glauben durfte. Wenn
Engelbrechta ihm mit dieſer maßloſen Liebe zugethan
war, welche man vorausſetzen mußte, dann konnte ſie
ihn unter keinen Umſtänden verrathen. Liebte ſie ihn
aber nicht über Alles, wie hatte ſie ihm denn ſo weit
folgen können? — Dann fand dafür auch der mildeſte
Sinn keine Rechtfertigung. Und nun, was ſollte nun
werden, vornehmlich dann, wenn es dem Unglücklichen
nicht zu entkommen gelang? — Blaß und verſtört blickte
Benigna ihn an.
„Ich ſollte mich ſelber dem Rathe ſtellen und die
Wahrheit ſagen“, begann er zwiſchen Hohn und Bitter-
keit, wie er bisher faſt immer geſprochen hatte. „Gäbe
das eine artige Läſtergeſchichte für alle beweglichen Znn-
gen der Stadt und der Gegend in weitem Umkreiſe —“
Angſtvoll und bittend richtete das Mädchen die ſpre-
chenden Augen auf ihn. ö
„Fürchte nichts — ich ſcherze nur. Schon um Dei-
netwillen, die als Zeugin in der Geſchichte eine Rolle
zu ſpielen hätte, ſteh: ich davon ab. Auch un anderer
Gründe willen. Aber darum ſoll ſie —“ Er biß ſich
finfter auf die Lippen. „Doch laß uns nicht weiter da-
von reden.“
Er ſtützte die Stirn in die Hand, grübelte über das
was geſchehen war und noch mehr über das, was ge-
ſchehen ſollte. Erſt allmählig entriß er ſich ſeinen Ge-
danken und Plänen und blickte in dem dürſtigen Gemach
umher.
Sie hatte für ihn den beſten Stuhl an den Tiſch
gerückt, trug ſpäter auf, was ſich in dem mehr als be-
ſcheidenen Speiſeſchranke vorfand und ſpann dann fleißig.
Wohl mußte ſie ſich Mühe geben und mit Gewalt ihre-
Aufmerkſamkeit darauf richten, damit nicht Knoten über
Knoten in den Faden kamen. Draußen war es auch ſo