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Heidelberger Volksblatt (9) — 1876

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Nr. 26 - Nr. 34 (1. April - 29. April)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44635#0111
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Heidelberger Volksblatt.

Nr. 28.

Samſtag, den 9. April 1876.

9. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag.

Preis monatlich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleg er, Schiffgaſſe 4

und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Der Geiger.
Ein Lebensbild aus dem Franzöſiſchen von Bent gen.
ö (Fortſetzung.) ö ü

Auf das feierliche Hochamt folgte eine feſtliche Pro-
zeſſion in weitem Umkreiſe, an der Jung und Alt Theil
nahm. Zwei volle Stunden lang ſah man ſie zwiſchen
den Felſen auftauchen und wieder verſchwinden, je nach-
dem der oft ſteile und ſchmale Pfad auf oder abwärts
führte, lange Reihen von Kerzen, Fahnen oder auch Se-
geltücher, die die Embleme des hauptſächlichſten Gewer-
bes der Inſelbewohner vorſtellten. Mit der gewöhnlichen
Bauern⸗ oder Schiffertracht der Männer und den bunten
Feſttagsanzügen der Weiber wechſelten ſchwarze oder
weiße Nonnentrachten, je nach den verſchiedenen Orden,
dem die alten Jungfrauen größtentheils angehörten. Nach

dieſem Umzuge hatte ſich Alles noch einmal in der Kirche

zum Nachmittagsgottesdienſt verſammelt, aber noch ehe
ditſer zu Ende war, ſtand ſchon Job Sainker auf ſeinem
gewohnten Platz mitten auf der Wieſe von Allegot, wo-
ſelb einmal im Jahre Brohat ſeinen Feſttag feierte.
Oie Tänzerinnen fehlten noch, aber bereits hatte ſich ein
Kreis um den Geiger gebildet, in der Erwartung eine
oder die andere ſeiner Kompoſitionen zu hören, die in
hohem Grade die Begeiſterung dieſer Naturkender, ſo-
wie den Neid der vornehm⸗ren Mufikanten von Paingal
erregten. Viele Stimmen verlangten zu gleicher Zeit
dieſes oder jenes Stück, aber Job ſchüttelte ſtatt aller
Antwort nur mit dem Kopfe und ſchien in ſeinen Ge-
danken nach etwas zu ſuchen.
Auf einmal fing er an zu präludiren und ſpielte
dann die Melodie eines alten bekannten Volksliedes, über
welche er ſich in Variationen erging, die zuerſt heiter
und ſchalkhaft, hie und da an Wildheit grenzten, und
dann ploͤtzlich in die zarteſten, wahrhaft rührend klagen-
den Töne übergingen, die Thränen in Aller Augen lock-
ten. Er gerieth ſelbſt in wahre Begeiſterung, ein Lächeln
glitt über ſeine ernſten Züge und verklärte ſeine hohe
Stirn, über welchth einige ſpärliche Haare fielen und
ſeine Bruſt ſchwellte vor innerer Bewegung. Die Er-
ſtaſe kam ungleich über ihn, ſo daß er in dem einen
Augenblick nach alten Regeln der Kanſt ſpielte, im näch-
ſten ſich darüber erhob. Ja, wenn dies Inſtrument die
Gedanken, die ihn zu überwältigen ſchienen, nicht ſo aus-

drückte, wie er es gerne wollte, ſo gebot er dem unvoll-
kommenenen Vermittler Schweigen und fing an zu dek-
lamiren, denn dieſer Naturmuſikus war zugleich Dichter
wie ſeine Vorfahren dies vor Alters geweſen. Muſfik
und Poeſie entquollen im innigſten Bunde ſeinen Fin-
gern und ſeinen Lippen, die Eine rief die Andere her-
vor; die Melodie erſetzte ſtellenweiſe den Reim, ohne daß
irgend welche Disharmonie ſtörend zwiſchen Rythmus
und Vortrag, zwifchen Dichtung und Geſang getreten
wäre. Dieſe eigenthümliche Sonnette hatte einen wil-
den Anſtrich, wie der Boden, dem ſie entſproſſen. Wenn
durch Zufall irgend welche Reminicenſen mit unter-
liefen, ſo fand man darin Bruchſtücke der antiken brita-
niſchen Poefie mit ihren Kriegsgeſängen, die ehemals die
Helden der Vorzeit zam Kampf anfeuerten und ihren
Liebesliedern, die vom Orient ſeine Träumereien und
ſein Feuer geborgt zu haben ſchienen. Wenn Job eine
ſolche gefunden, ſo wiederholte er dieſelbe mit einer
ſolchen Lebhaftigteit und mit einem ſo vollſtändigen Ver-
geſſen ſeines Auditoriums, als ſänge er nur für ſich
allein. — Ich ſah eine alte Frau neben mir ſich be-
kreuzen, als wäre ſie in der Kirche. Auf meiner an-
dern Seite hatte der Grenzwächter eine faſt kriegeriſche
Haltung angenommen. Alle dieſe wettergebräunten Ge-
ſichter, die ich hier verſammelt ſah und die den Stempel
nahezu übermenſchlicher Anſtrengungen in ihren Zügen
trugen, heiterten ſich unter den Klängen von Job's In-
ſtrument und bei ſeinen Liedern ſichtlich auf und ſchienen
etwas von ihrer Härte zu verlieren, die ihnen ihr hei-
mathlicher Boden aufgedrückt hatte. Ich hörte einen
Rleſen mit einem Wachstuchmantel, für welchen, nach
ſeinem Aeußern zu ſchließen, der vom Geiſtlichen ſo ſehr
gefürchtete verweichlichende Einfluß vielmehr ein Segen
als ein Nachtheil geweſen wäre, zu ſeinem Nachbar ſa-
ger: Wenn dieſe Mufik ertönt, vergißt man Lachen und
Trinken und Händel, die Arme ſinken ſchlaff herab.
Mir iſt als hörte ich die Stimme meiner ſeligen
Mimi vom Himmel herunter zu mir ſprechen, ſagte eine
Mutter, die um ihr jüngſt verſtorbenes Töchterchen
Trauer trug. ö
In einiger Entfernung von der Gruppe ſtand ein
Liebespärchen, ſtumm, die Hände in einander verſchlun-
gen. Dieſe Sprache hatte ſie verſtehen lehren, was ſie,
ohne es zu wiſſen, längſt empfunden, daß ſie ſich liebten.
So war Jeder nach ſeinem Alter und in ſeiner Art

ergriffen und bewegt, denn das iſt ja die Gabe des Ge-
 
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