Heidelberger Volksblatt.
Nr. So.
Dienſtag, den 10. October 1876.
9. Jahrg.
Erſcheint jeden Dienſtag, Donnerſtag und Samſtag. Preis monatlich 36 Pf. Einzelne Rummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Ver-
leger, Schiffgaſſe 4 und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.
Zur gef. Beachtung.
Das „Heidelberger Volksblatt“ wird von jetzt
ab wöchentlich drei Mal und zwar Dienſtag,
Donnerſtag und Samſtag erſcheinen, der Baſen-
theil wie bisher 2 Mal wöchentlich ſeine Ver-
tretung finden.
Preis des Blattes monatlich 36 Pfg. Abon-
nenten erhalten den täglich erſcheinenden „Neuen
Heidelberger Anzeiger“ gratis zugeſtellt.
Die Redaction.
Das verkaufte Herz.
Eine Erzählung von Maz Ring.
1.
Der Bau einer neuen Elſenbahn und der Miliarden-
rauſch hatten in dem nahe der Refidenz gelegenen Dorf
Schönfeld eine foͤrmliche Revolution hervorgerufen. Seit
einigen Monaten war der Preis des Bodens um das
vierfache, ja für einzelne beſonders günſtige Grundſtücke
um das zehufache geſliegen. Auf einen Schlag verwan-
delten ſich öde Sandſtrecken in kaliforniſche Goldfelder,
früher werthloſe Steinbrüche und Lehmgruben in ein Gol-
konda. Von allen Sreiten ſtiegen kokette Häuschen und
tlegante Villen gleich Pilzen nach einem warmen Som-
merregen empor; überall ſah man zahlreiche Arbeiter wie
Ameiſen in der Erde wühlen, Dämme aufſchütten, Berge
abtragen, Brücken ſchlagen, Viadukts aufrichten und Tun-
nel graben.
Mit dem zunehmenden Wohlſtand änderten ſich auch
die Sitten, Gewohnheiten und Anſchauungen der Dorf-
bewohner. Die braven Landleute eigneten ſich mit be-
wunderungewürdiger Schnelligkeit die Genüſſe, Moden
und den Luxus der benachbarten Hauptfladt an. Die
Männer tranken nicht mehr wie ſonſt das dünne Weiß-
bier oder einen Schnaps, ſondern echtes Bairiſch und
bei feſtlichen Gelegenheiten ſelbſt Rothwrin und Cham-
pagner, wozu ſie ſtalt des biligen Knaſters theure Ci-
garren rauchten und „Skat“ oder „Solo“ mit ſo hohem
Ciaſatz ſpielten, daß Einer oder der Andere an einem
Abend ſeine fünf bis zehn Thaler ſitzen ließ, ohne eine
Miene zu verziehen. ö
Auch die Fraͤuen und Mädchen wollten nicht zurück-
bleiben und an dem allgemeinen Fortſchritt Theil neh-
men. Die alten Tiſche, Bänke und Stühle von gewöhn-
lichem Knieholz gefielen ihnen nicht niehr und wurden
durch beſſere Möbel von Mahagoni erſetzt. Man ſchaffts
ſich Plüſchſophas und Polſterſtütle für die ſogenannte
„gute Stube“ an; auch mußte man eine Glasſervante
für die vergoldeten Kaffeetaſſen und gemalten Kuchenteller
haben. Statt der einfachen Kattum öcke ſah man jetzt
immer mehr fein wollene oder gar ſeidene Kleider nach
dem neueſten Schnitt, mit Volants, Paffen, Schleppen
mit hochaufgebauſcten Hintertheilen, gerade wie ſie die
Damen in der Reſidenz trugen. ö
Selbſt das innerſte Familienleben blied von dieſen
Einflüſſen nicht unberührt. Der Verkehr mit den zahl-
reichen Beamten, mit den beim Bau angeſtellten Archi-
tecten, Ingenieuren und den dabei beſchäftigten Uater-
nehmern griff wiit tiefer in alle Beziehungen und Ver-
hältniſſe ein, als es für die Ruhe und den Frieden der
Bevollerung gut und wünſchenswerth ſein wochte. Das
gegebene Beiſpiel wirkte grade nicht vortheilhaft und die
„Chronique ſcandaleuſe“, welche ebenſowenig in dem
Dorf wie in der Stadt zu fehlen pflegt, wußte allerlei
Geſchichten von verfänglichen Liebſchaften zwiſchen den
fren den Herren und den ländlichen Schönen zu berich-
ten, welche nur zu empfänglich für die Schmeicheleien
und Verlockungen der nenen Anbeter waren. Die meſſt
noch jungen und gut brzahlten Baubeamten benutzten die
gebotene Gelegenheit, ſich auf das Beſte zu unterhalten
und ſich für die ſchmerzlich entbehrten Genüſſe der gro-
ßen Stadt nach Kräften zu entſchädigen; die Meßrzahl
führte ein nichts weniger als erbauliches Leben und über-
ließ ſich allen erlaubten und unerlaubten Vergnügungen,
ohne ſich um die Folgen und den moraliſchen Schaden
für ihre Umgebung zu kümmern oder ſich wegen des da-
raus entnehenden Unheils die geringſten Gewiſſensbiſſe
zu machen.
Eine rühmliche Ausnahme unter dieſen leichtſinnigen,
in den Tag hineinlebenden Geſellen bildete faft allein der
junge ſolide Ingenieur, der bereits ſeit einem Jahr in
dem Gaſthaus zum goldenen Adler wohnte. Wie Vater
Wegener, der ehrenwerthe Wtrth des Dorfbotels und
einer der angeſehenſten Männer im ganzen Ort, ver-
ſicherte, war Herr Brandt die Krone ſeiner Gäſte, ein
Nr. So.
Dienſtag, den 10. October 1876.
9. Jahrg.
Erſcheint jeden Dienſtag, Donnerſtag und Samſtag. Preis monatlich 36 Pf. Einzelne Rummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Ver-
leger, Schiffgaſſe 4 und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.
Zur gef. Beachtung.
Das „Heidelberger Volksblatt“ wird von jetzt
ab wöchentlich drei Mal und zwar Dienſtag,
Donnerſtag und Samſtag erſcheinen, der Baſen-
theil wie bisher 2 Mal wöchentlich ſeine Ver-
tretung finden.
Preis des Blattes monatlich 36 Pfg. Abon-
nenten erhalten den täglich erſcheinenden „Neuen
Heidelberger Anzeiger“ gratis zugeſtellt.
Die Redaction.
Das verkaufte Herz.
Eine Erzählung von Maz Ring.
1.
Der Bau einer neuen Elſenbahn und der Miliarden-
rauſch hatten in dem nahe der Refidenz gelegenen Dorf
Schönfeld eine foͤrmliche Revolution hervorgerufen. Seit
einigen Monaten war der Preis des Bodens um das
vierfache, ja für einzelne beſonders günſtige Grundſtücke
um das zehufache geſliegen. Auf einen Schlag verwan-
delten ſich öde Sandſtrecken in kaliforniſche Goldfelder,
früher werthloſe Steinbrüche und Lehmgruben in ein Gol-
konda. Von allen Sreiten ſtiegen kokette Häuschen und
tlegante Villen gleich Pilzen nach einem warmen Som-
merregen empor; überall ſah man zahlreiche Arbeiter wie
Ameiſen in der Erde wühlen, Dämme aufſchütten, Berge
abtragen, Brücken ſchlagen, Viadukts aufrichten und Tun-
nel graben.
Mit dem zunehmenden Wohlſtand änderten ſich auch
die Sitten, Gewohnheiten und Anſchauungen der Dorf-
bewohner. Die braven Landleute eigneten ſich mit be-
wunderungewürdiger Schnelligkeit die Genüſſe, Moden
und den Luxus der benachbarten Hauptfladt an. Die
Männer tranken nicht mehr wie ſonſt das dünne Weiß-
bier oder einen Schnaps, ſondern echtes Bairiſch und
bei feſtlichen Gelegenheiten ſelbſt Rothwrin und Cham-
pagner, wozu ſie ſtalt des biligen Knaſters theure Ci-
garren rauchten und „Skat“ oder „Solo“ mit ſo hohem
Ciaſatz ſpielten, daß Einer oder der Andere an einem
Abend ſeine fünf bis zehn Thaler ſitzen ließ, ohne eine
Miene zu verziehen. ö
Auch die Fraͤuen und Mädchen wollten nicht zurück-
bleiben und an dem allgemeinen Fortſchritt Theil neh-
men. Die alten Tiſche, Bänke und Stühle von gewöhn-
lichem Knieholz gefielen ihnen nicht niehr und wurden
durch beſſere Möbel von Mahagoni erſetzt. Man ſchaffts
ſich Plüſchſophas und Polſterſtütle für die ſogenannte
„gute Stube“ an; auch mußte man eine Glasſervante
für die vergoldeten Kaffeetaſſen und gemalten Kuchenteller
haben. Statt der einfachen Kattum öcke ſah man jetzt
immer mehr fein wollene oder gar ſeidene Kleider nach
dem neueſten Schnitt, mit Volants, Paffen, Schleppen
mit hochaufgebauſcten Hintertheilen, gerade wie ſie die
Damen in der Reſidenz trugen. ö
Selbſt das innerſte Familienleben blied von dieſen
Einflüſſen nicht unberührt. Der Verkehr mit den zahl-
reichen Beamten, mit den beim Bau angeſtellten Archi-
tecten, Ingenieuren und den dabei beſchäftigten Uater-
nehmern griff wiit tiefer in alle Beziehungen und Ver-
hältniſſe ein, als es für die Ruhe und den Frieden der
Bevollerung gut und wünſchenswerth ſein wochte. Das
gegebene Beiſpiel wirkte grade nicht vortheilhaft und die
„Chronique ſcandaleuſe“, welche ebenſowenig in dem
Dorf wie in der Stadt zu fehlen pflegt, wußte allerlei
Geſchichten von verfänglichen Liebſchaften zwiſchen den
fren den Herren und den ländlichen Schönen zu berich-
ten, welche nur zu empfänglich für die Schmeicheleien
und Verlockungen der nenen Anbeter waren. Die meſſt
noch jungen und gut brzahlten Baubeamten benutzten die
gebotene Gelegenheit, ſich auf das Beſte zu unterhalten
und ſich für die ſchmerzlich entbehrten Genüſſe der gro-
ßen Stadt nach Kräften zu entſchädigen; die Meßrzahl
führte ein nichts weniger als erbauliches Leben und über-
ließ ſich allen erlaubten und unerlaubten Vergnügungen,
ohne ſich um die Folgen und den moraliſchen Schaden
für ihre Umgebung zu kümmern oder ſich wegen des da-
raus entnehenden Unheils die geringſten Gewiſſensbiſſe
zu machen.
Eine rühmliche Ausnahme unter dieſen leichtſinnigen,
in den Tag hineinlebenden Geſellen bildete faft allein der
junge ſolide Ingenieur, der bereits ſeit einem Jahr in
dem Gaſthaus zum goldenen Adler wohnte. Wie Vater
Wegener, der ehrenwerthe Wtrth des Dorfbotels und
einer der angeſehenſten Männer im ganzen Ort, ver-
ſicherte, war Herr Brandt die Krone ſeiner Gäſte, ein