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Volksblatt.
Nr. I. .
2
Samſtag, den 29. September 1876.
9. Jahrg.
Srſcheint Mitiwoch und Samſtag. Preis nanailich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.
AbdulHamid II.
Der Gedanke rom Gotesgnadenthum der gekrönten
Häupter mußte in den letzten Jahrzehnten gar manchen
Stoß über ſich ergehen laſſen; ina England ſchon vor
mehr als zweihandert Jahren über Bord geworfen, in
Frankreich durch die große Revolution beſeitigt, friſtete
er auf dem übrigen Kontinent ein von Jahr zu Jahr
mehe und mehr verkümmerndes Daſein, bis er ſich aach
hier zuletzt ſo ſehr überlebt hatte, daß er eine Stätte
nur noch in Reich des Cjaren und des Großſultaus zu
finden vermochte. Nunmehr aber bürfte er ſelbſt den
Söhnen des Propheten, die ihn bis jetzt am entſchieden-
ſten feſtgehalten, nach den Ereigniſſen der letzten drei Mo-
ſche zum mindeſten von hoͤchſt zweifelhaftem Werthe er-
einen.
Am 30. Mai dieſes Jahres überaſchte der Telegrapz
die Zeitungsleſer mit der Nachricht: „Nach dem einſtimmi-
gen Wunſch der Bevölkerung iſt Sultan Abdul⸗Aziz heute
enithront und der nach der Thronfolgeordnung zunächſt
erbberechtigte Prinz unter dim Namen Marad V. als
ſein Nachfolger proklamirt worden.“
Daß „ein einſtimmiger Wunſch der Bevölkerung“ ſo
raſch Ecfüllung gefunden, war eine Erſcheinung, die in
den europälſchen Culturſtagten za gewiſſen Zeiten — ſo
bei der Abreiſe Karls X. und Louis Philippe's aus Frank-
reich, von andern Beiſpielen nicht zu reden — ſchon mehr-
fach beobachtet worden war; für die Türkei war fie j den-
falls neu und ſo lag es nahe, daß jene Nachricht zu-
nächſt uͤberall große Heiterkeit erregt. Und doch hatte
ſie ihr ernſtere Seite.
Es war am 41. Mal, als Sultan Abdul⸗Aziz auf
ſeiner Fahrt zur Moſchee auf ein ganz unerhoͤrtes und
in ſeinen Augen unzweifelhaft ungeheuerliches Hinderniß
ſtieß. Eine Schaar von Softas — halb, um ſie mit
einem Wort zu charekteriſien, Studenten, halb angehende
Prieſter, Beamte, Rechtzanwälte, kurzum die Träger der
Intelligenz und jedenfalls die eid flußreichſte Klaſſe der
Bevölkerung — zwang den kaiſerlichen Wagen zu helten
und überreicht: dem Großherrn eine Bittſchrift, in der
mit dürren Worten Abſchaffung der Serailwirthſchaſt, Ver-
leihnag verfaſſungsmäßigen Regiments und Beſeitigung
verſchtedener der höchſten Würdenträger verlanat wurde;
was aber das ärgſte — man g währte dem Großherrn
nur drei Standen Zeit, ſich zu entſchlleßen. Und das
Unglaubliche geſchih: die drei Stunden waren nicht ab-
gelaufen, bis ſich Abdul⸗Aziz in alle Forderuagen der
Softas fügte und demzufolge an die Spitz: der Geſchäf te
die Männer berief, die von den „Rebellen“ als die be-
rufenen Leiter des Staates bezeichnet worden waren.
Zum erſtenmale ſah die Welt, wie auch der Nachfolger
des Proph t'n dem Willen des Volks oder doch ſeiner
eigentlichſten Vertreter Rechnung trug und wie ſomit auch
ihm gegenüber, ihm dem verkörperten Gottesgnadenthum,
der revolutionäre Gedanke ſeine Macht bewieſen hatte.
Daß Abdul⸗Aziz bei all ſeiner Jimmerlichkzit den
ihn ang thanen Zwanz als eine Schmch empfand, die
nur durch blutige Rache an den Rebellen und ihren Füh ·
rern geſühnt werden könne, erklärt ſich am Ende ſehr leicht.
Ob er wirklich den Plan gefaßt hatte, ſich ruſſiſcher Hülfe
zu ibrer Ausführung zu bedienen, wird ſich er beurthei-
len laſſen, wenn ſtatt der Mittheiunzen „unterrichteter“
Zeitungskorreſpondenten die heute noch ſorgfälti verſchloſ-
ſenen Aktenſchränke der Diplomaten aller Welt zugäng-
lich werden. Soviel ſteht jedenfalls feſt, daß zwiſchen
dem Serail und dem Palais des ruſſiſchen Botſchafters
in jenen Tagen mancherlei Ränke ſpielten, die es erklär-
lich machten, wenn in der türkiſchen Hauptſtadt plötzlich
Gerüchte über einen bevorſtehenden Staatsſtreich auft auch ⸗
ten, zu dem ruſſiſche Truppen mitwirken würden, und der
nichts anderes beabſiſhtige, als die Reformbewegung und
ihre Träzer mit einem Schlage zu veraichten. Ob nun
der Schlag wirklich geplant war oder nicht, jedenfalls er-
folgte der Gegenſchlaz früßer: in der Nacht zum 30. Mai
wurde Abdul⸗Aziz voa dem um ihn verſammelten Mini-
ſterrath in höchſt formloſer Weiſe des Throns verluſtiz
erklärt und zu ſeinem Nachfolger der älteſte Sohn Ab-
dul Medjids, Murad, ernannt. So vortrefflich aber
waren alle Vorbreitung en getroffen, daß ſich auch nicht
eine Hand erhob, als am folgen den Morgen die getreuen
Bewohner der Reichshaupiſtadt von dem Eceigniß in Kennt-
niß geſetzt wurden. Daß es an der beknnten Begeiſte-
rung für den neuen Herrſcher nicht fehlt, bedarf ſelbſt-
redend keiner Bemerkang,
Wollts man den beredten Schilder ungen glauben, wie
ſie damals über den neuen Beherrſcher der Gläubizen
von Konſtantinopel aus in Umlaaf geſetzt wurden, ſo
mußte man allerdines zuzeben, daß der Jubel, mit dem
die Stadt den Thronwechſel feierte, berechtigt war. Sul-
tan Mu ad V. erſchien danach als der Erlöſer und Hei-
land ſeiner Unterthanen; der vollkommene Gegenſatz zu
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Volksblatt.
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Samſtag, den 29. September 1876.
9. Jahrg.
Srſcheint Mitiwoch und Samſtag. Preis nanailich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.
AbdulHamid II.
Der Gedanke rom Gotesgnadenthum der gekrönten
Häupter mußte in den letzten Jahrzehnten gar manchen
Stoß über ſich ergehen laſſen; ina England ſchon vor
mehr als zweihandert Jahren über Bord geworfen, in
Frankreich durch die große Revolution beſeitigt, friſtete
er auf dem übrigen Kontinent ein von Jahr zu Jahr
mehe und mehr verkümmerndes Daſein, bis er ſich aach
hier zuletzt ſo ſehr überlebt hatte, daß er eine Stätte
nur noch in Reich des Cjaren und des Großſultaus zu
finden vermochte. Nunmehr aber bürfte er ſelbſt den
Söhnen des Propheten, die ihn bis jetzt am entſchieden-
ſten feſtgehalten, nach den Ereigniſſen der letzten drei Mo-
ſche zum mindeſten von hoͤchſt zweifelhaftem Werthe er-
einen.
Am 30. Mai dieſes Jahres überaſchte der Telegrapz
die Zeitungsleſer mit der Nachricht: „Nach dem einſtimmi-
gen Wunſch der Bevölkerung iſt Sultan Abdul⸗Aziz heute
enithront und der nach der Thronfolgeordnung zunächſt
erbberechtigte Prinz unter dim Namen Marad V. als
ſein Nachfolger proklamirt worden.“
Daß „ein einſtimmiger Wunſch der Bevölkerung“ ſo
raſch Ecfüllung gefunden, war eine Erſcheinung, die in
den europälſchen Culturſtagten za gewiſſen Zeiten — ſo
bei der Abreiſe Karls X. und Louis Philippe's aus Frank-
reich, von andern Beiſpielen nicht zu reden — ſchon mehr-
fach beobachtet worden war; für die Türkei war fie j den-
falls neu und ſo lag es nahe, daß jene Nachricht zu-
nächſt uͤberall große Heiterkeit erregt. Und doch hatte
ſie ihr ernſtere Seite.
Es war am 41. Mal, als Sultan Abdul⸗Aziz auf
ſeiner Fahrt zur Moſchee auf ein ganz unerhoͤrtes und
in ſeinen Augen unzweifelhaft ungeheuerliches Hinderniß
ſtieß. Eine Schaar von Softas — halb, um ſie mit
einem Wort zu charekteriſien, Studenten, halb angehende
Prieſter, Beamte, Rechtzanwälte, kurzum die Träger der
Intelligenz und jedenfalls die eid flußreichſte Klaſſe der
Bevölkerung — zwang den kaiſerlichen Wagen zu helten
und überreicht: dem Großherrn eine Bittſchrift, in der
mit dürren Worten Abſchaffung der Serailwirthſchaſt, Ver-
leihnag verfaſſungsmäßigen Regiments und Beſeitigung
verſchtedener der höchſten Würdenträger verlanat wurde;
was aber das ärgſte — man g währte dem Großherrn
nur drei Standen Zeit, ſich zu entſchlleßen. Und das
Unglaubliche geſchih: die drei Stunden waren nicht ab-
gelaufen, bis ſich Abdul⸗Aziz in alle Forderuagen der
Softas fügte und demzufolge an die Spitz: der Geſchäf te
die Männer berief, die von den „Rebellen“ als die be-
rufenen Leiter des Staates bezeichnet worden waren.
Zum erſtenmale ſah die Welt, wie auch der Nachfolger
des Proph t'n dem Willen des Volks oder doch ſeiner
eigentlichſten Vertreter Rechnung trug und wie ſomit auch
ihm gegenüber, ihm dem verkörperten Gottesgnadenthum,
der revolutionäre Gedanke ſeine Macht bewieſen hatte.
Daß Abdul⸗Aziz bei all ſeiner Jimmerlichkzit den
ihn ang thanen Zwanz als eine Schmch empfand, die
nur durch blutige Rache an den Rebellen und ihren Füh ·
rern geſühnt werden könne, erklärt ſich am Ende ſehr leicht.
Ob er wirklich den Plan gefaßt hatte, ſich ruſſiſcher Hülfe
zu ibrer Ausführung zu bedienen, wird ſich er beurthei-
len laſſen, wenn ſtatt der Mittheiunzen „unterrichteter“
Zeitungskorreſpondenten die heute noch ſorgfälti verſchloſ-
ſenen Aktenſchränke der Diplomaten aller Welt zugäng-
lich werden. Soviel ſteht jedenfalls feſt, daß zwiſchen
dem Serail und dem Palais des ruſſiſchen Botſchafters
in jenen Tagen mancherlei Ränke ſpielten, die es erklär-
lich machten, wenn in der türkiſchen Hauptſtadt plötzlich
Gerüchte über einen bevorſtehenden Staatsſtreich auft auch ⸗
ten, zu dem ruſſiſche Truppen mitwirken würden, und der
nichts anderes beabſiſhtige, als die Reformbewegung und
ihre Träzer mit einem Schlage zu veraichten. Ob nun
der Schlag wirklich geplant war oder nicht, jedenfalls er-
folgte der Gegenſchlaz früßer: in der Nacht zum 30. Mai
wurde Abdul⸗Aziz voa dem um ihn verſammelten Mini-
ſterrath in höchſt formloſer Weiſe des Throns verluſtiz
erklärt und zu ſeinem Nachfolger der älteſte Sohn Ab-
dul Medjids, Murad, ernannt. So vortrefflich aber
waren alle Vorbreitung en getroffen, daß ſich auch nicht
eine Hand erhob, als am folgen den Morgen die getreuen
Bewohner der Reichshaupiſtadt von dem Eceigniß in Kennt-
niß geſetzt wurden. Daß es an der beknnten Begeiſte-
rung für den neuen Herrſcher nicht fehlt, bedarf ſelbſt-
redend keiner Bemerkang,
Wollts man den beredten Schilder ungen glauben, wie
ſie damals über den neuen Beherrſcher der Gläubizen
von Konſtantinopel aus in Umlaaf geſetzt wurden, ſo
mußte man allerdines zuzeben, daß der Jubel, mit dem
die Stadt den Thronwechſel feierte, berechtigt war. Sul-
tan Mu ad V. erſchien danach als der Erlöſer und Hei-
land ſeiner Unterthanen; der vollkommene Gegenſatz zu