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Heidelberger Zeitung — 1899 (Januar bis Juni)

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https://doi.org/10.11588/diglit.39312#0472
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für die Gegenwart und nicht für das, was in Jahrzehnten mög-
lich sei. Er sei kein Prophet. Welche Verhältnisse der wachsende
Reichsgedanke und die zunehmende Beteiligung der deutschen
Bahnen am Weltverkehr in 50—60 Jahren schaffen, sei noch nicht
zu übersehen. Vielleicht werde dann einmal mit elementarer
Kraft auf eine Centralisation des Bahnnetzes unter der Ober-
leitung des Reiches hingewirkt. Es sei dann aber nur noch von
dem Reich die Rede und nicht von Preußen. Die Centralisation
müsse unter gleichzeitiger vertragsmäßiger Zusammenfassung aller
Bundesstaaten unter Oberleitung des Reiches erfolgen. Ein
Niemals dürfte man vorsichtigerweise niemals in den Mund
nehmen. Er erinnert daran, daß auch der deutsche Zollverein
im Anfang bekämpft wurde. Heute aber gebe es wohl kaum
noch eine Partei, die für Zollautonomie eintreten würde. Er be-
tone also nochmals, die Selbständigkeit Badens sei niemals be-
droht gewesen. (Beifall.)
Auf Antrag der Avgg. Fischerl und Fieser wird in eine Be-
sprechung der Interpellation eingetreten.
Abg Hug (Centr.): Er habe mit Befriedigung vernommen,
daß Baden seine Selbständigkeit nicht aufgeben wolle und daß
die Regierung um Reduzirung des Verlustes bemüht war. Ur-
sprünglich habe j r ein Ausfall von einer Million Mark gedroht. Auch
jetzt sei oer Ausfall noch bedeutend. Bei der hessischen Ludwigs-
bahn waren der Natur nach alle Aussichten zu einer guten
Rentabilität vorhanden. Aber sie sei nicht eingetreten, weil sich
das Bleigewicht der preußischen Konkurrenz geltend gemacht habe.
Diese Konkurrenz habe der Aktiengesellschaft 47, Millionen Mark
Schaden zugefügt. In der hessischen Kammer seien hierüber sehr
scharfe Uriheile gefällt worden. Der Zweck, die Aktionäre mürbe
zu machen, sei ja erreicht worden. Soweit sie noch nicht mürbe
waren durch die Konkurrenz, seien sie durch den Goldregen bei
den Verkaufsverhandlungen mürbe geworden. Tie Verteilung
der Einnahmen sei so geregelt worden, daß, konkret ausgesprochen,
Preußen mit 432 Millionen und Hessen mit 8 Millionen, Preußen
also mit 98 Prozent und Hessen mit 2 Prozent am Reingewinn
betheiligt sei. Als hessischer Abgeordneter würde er jedenfalls ja
gesagt haben. Sollte Baden ein ähnlicher Vertrag vorgelegt
werden, so werde er dagegen sein Zu verkennen sei nicht, daß
die hessische Ludwigsbahn der Schlüssel zu unserem Verkehrsnetz
sei. Preußensei mit 98 Prozent an der Rentabilität der Hessischen
Ludwigsbahn interessirt. Die badische Regierung habe zwar er-
klärt, daß sie einen vortheilhaften Vertrag abgeschlossen habe.
Aber die Gefahr werde wiederkchren. Auch der jetzige Ausfall
sei bedeutend. Da er Jahr für Jahr wiederkehre, so könne man
ihn kapitalisiren. Bei einem Ausfall von 650 000 Mark betrage
die Kapitalsschädigung 16 Millionen Mark und bei 500000 Mark
Verlust 10 Millionen Mark, was der Vermehrung der Eisenbahn-
schuld um diesen Betrag gleichkomme. Centripetale Gründe
könnten nicht maßgebend sein für die Politik Preußens, denn die
Reichseinheit könne nicht gewinnen, wenn den Einzelstaaten die
Eisenbahnhoheit entzogen werde. Er wolle auch die volkswirth-
schaftiichen Gründe nicht gelten lassen, denn die seien bei Baden
besser gewahrt. Es blieben also nur fiskalische Interessen übrig.
Er bitte zum Schluß die Regierung um Schutz unserer Selbst-
ständigkeit und um periodische Veröffentlichung der Statistik.
Dr. Heimburger (Dem.! ist durch den Minister in seinen
Bedenken nicht wankend geworden. Er glaube, daß Baden seine
Selbständigkeit nicht aufgeben wolle und daß Preußen diese Ab-
sicht auch noch nicht zu erkennen gegeben habe. Wenn in Preu-
ßen diese Absicht aber doch bestehen sollte, so sei der Mann, der
die Geschicke Preußens lenke, der allerletzte, der dies vorzeitig
kund gebe. Er werde seine Pläne im Herzensschrein verwahren.
Wenn es auch gelungen sei, allzu große Schädigungen zu ver-
hüten, so sei dies doch nicht für alle Zukunft sicherstellend. Die
eine Möglichkeit sei offen, Baden durch scharfe Schädigungen
mürbe zu machen. Die weitere Möglichkeit sei offen, daß man
den Gedanken der Gemeinschaft durch Schilderungen von den
badischen Vortheilen populär macht. Die Unkenrufe seien doch
nicht zwecklos. Er wolle sie auch nicht als Unkenrufe bezeichnen.
Wenn uns die preußische Konkurrenz einen wesentlichen Theil
unserer Einnahmen nehme, dann sei das Rückgrat der badischen
Selbständigkeit ausgebrochcn. Er wünsche nicht, daß badische
Eisenbahnwünsche in Berlin entschieden werden. In solchen
Fällen sollte man aus eigener Kraft Abwehrmittel bereitstellen.
Sie seien möglich. Ein solches Mittel sei ein Abkommen der
süddeutschen Verwaltungen. Eine Finanzgemeinschaft sei hierzu
nicht uöthig. Genügend sei die Verabredung, daß keiner der
Einzelstaaten für sich mit Preußen verhandele und sich nicht für
vorübergehende Vortheile gegen andere Nachbarstaaten benützen
lasse. Eine weiteres Mittel sei eine gesunde Tarifpolitik. Eine
Tarifreform, sei es auch nur in Baden selbst, werde eine
mächtige Schutzwehr sein, denn einmal mache man die badische
Eisenbahnhoheit populär und sodann könne Preußen uns nicht
folgen auf dem Gebiete der Tarifpolttik. Dann könne auch Hr.
v. Miguel in der Presse, die ihm hier zu Lande zur Verfügung
stehe, nicht verkünden lassen, daß ein Abkommen mit Preußen
für Baden vorteilhaft sei.
Psist er er (Antis.) ist für die Selbständigkeit Badens und
für weiteren Ausbau der Bahnen.
Abg. Geck (Soz.) betont die Nothwendigkeit der badischen
Eisenbahnselbständigkeit ähnlich wie die Vorredner.
Abg. Eder (freist) ist ähnlicher Ansicht und sieht einen
Wesentlichen Vortheil für die inneren Bahnverhältniffe in dem
Ausbau der Nebenbahnen mit Nor m a lsp ur, damit der Weiter-
fluß der Güter ohne Umladung auf den Hauptstrecken erfolgen
könne.
Abg. Fieser (natl.) erklärt sich namens seiner Freunde mit
der Erklärung des Ministers zufrieden. Man sollte daran fest-
halten, daß man auch Preußen und Hessen gegenüber gerecht
fein müsse. Da diese den Schlüssel für unseren Verkehr in der
Hand haben, dürfe man doch nicht verlangen, daß sie lediglich
für die Main-Neckarbahn sorgen. Preußen habe bei Uebernahme
der Staatsbahnen 7 Milliarden Bahnschuld gehabt. Es habe sie
seit 1882 auf 47, Milliarden reduzirt. Es habe dabei große
Bahnen gebaut, und auch große Beträge für allgemeine Staats-
zwecke aufgewendet. Das sei auch ein wirthschaftlicher Erfolg.
Wenn Preußen den Wünschen nach Verbilligung nicht immer
nachgegeben habe so sei dies begreiflich. Wenn nun Baden mit
großen Tarifverbilligungen gegen Preußen austreten wolle, ,so
sei dies auch bedenklich, abgesehen davon, daß auch unsere
Bahnrente darunter leiden müsse.
Nach persönlichen Bemerkungen der Abgg. Dr. Heimburger,
Hug, Fieser und Dr. Wilckens wird die Debatte über die Petition
geschlossen.
Abg. Klein (ntl.) berichtet über die Petition des Eiscnbahn-
komtws Thengen, von 23 Gemeinden und größeren Firmen
M.,, bauung einer normalspurigen Bahn Thengen»
Bußltngen-Beuren-Binningen-Storzeln-Rieb-
beantragt Ueberreichuna des
Gesuchs an die Regierung zur Kenntnißnahme in dem Sinne,
daß erne „thunlichst baldige" Untersuchung angestellt werde.
Abgg. Müller (natl.) undHug (Ctr.) befürworten die Petition.
Geh. Rath Zittel ist mit dem Anträge einverstanden, bemerkt
aber, daß die Erhebungen in der nächsten Zeit nicht erfolgen
konnten, da die Verwaltung mit anderen Arbeiten zu sehr über-
häuft sei.
Abg. Kögl er (natl.) berichtet über das Gesuch des Bau-
unternehmers Karl Ehregott Kos Per aus Stuttgart um Ent-
schädigung wegen angeblich unverschuldet erlittener Schäbigungen
beim Bahnbau Wolfach-Schtltach im Jahre 1884, das bereits
einmal das Haus beschäftigt hat, aber an die Kommission zurück-
verwiesen wurde; er beantragt schließlich Uebergang zur Tages-
ordnung.
Der Kommissionsantrag wird gegen 14 Stimmen angenommen.
Nächste Sitzung: Donnerstag 4. Mai.
Elsaß-Lothringe». Straßburg, 3. Mai. Das
Kaiserpaar traf heute Vormittag 9 Uhr 30 Minuten

hier ein und wurde am Bahnhof vom kaiserlichen Statt-
halter nebst Gemahlin, der Generalität, sowie den Spitzen
der Behörden empfangen. Um 1 Uhr 30 Minuten trat
das Kaiserpaar die Fahrt nach dem Odilienberg an,
von wo es Abends 7 Uhr 10 Minuten zurückkehrte.
Darauf fand im Statthalterpalais ein Diner zu 70 Ge-
decken statt. Die Stadt ist reich beflaggt. In den
Straßen herrscht reges Leben. In Odilienberg
hatte Bischof Dr. Fritzen, der Direktor des Klosters und
die Klostermutter das Kaiserpaar unter einem vor dem
Kirchenportal aufgeschlagenen Baldachin begrüßt. Das
Kaiserpaar unternahm hierauf einen Rundgang durch die
Kirche, besichtigte die Grabkapelle und den Kceuzgang und
begab sich auf die Plattform, um die herrliche Aussicht zu
bewundern. Hierauf wurde ein Imbiß im Bischofszimmer
eingenommen, woran sich ein Rundgang um den Felsen
und Gang zur Heidenmauer anschloß.
Metz, 3. Mai. Die beiden jüngsten kaiserlichen Kin-
der, Prinz Joachim und Prinzessin Luise, treffen heute
Nachmittag mittelst Sonderzugcs in Curzel ein, um sich
nach Urville zu begeben. Nächsten Freitag 6 Uhr 15 M.
Abends werden die Majestäten daselbst erwartet.

Aus der Karlsruher Zeitung.
— Seine Königliche Hoheit der Großherzog haben den
Oberlandesgerichtsrath Dr. Karl Eller zum Mitglied des
Kompetenzgerichtshofs ernannt.
— Seine Königliche Hoheit der Großherzog haben den
Geheimen Rath Eduard Engelhorn, Direktor des Ver-
waltungshofs, zum Mitglied und Vorsitzenden, den Landgerichts-
präsidenten Ludwig Schember in Heidelberg zum Stellvertreter
im Vorsitz und den Geheimen Rath Karl Baader, Mitglied
des Verwaltungsgerichtshofs, zum Mitglied des Bisziplinarhofs
für nicht richterliche Beamte für den Rest der laufenden drei-
jährigen Dienstperiodc, d. i. bis zum 31. December 1901, er-
nannt; dem Hofökonomierath Leonhard Krämer in Karlsruhe
die Erlaubntß zur Annahme und zum Tragen des ihm ver-
liehenen Königlich Preußischen Kronen-Ordens 4. Klaffe ertheilt.
— Steuerkommissärassistent Joseph Grämlich in Buchen
wurde zum Revidenten bei der Katasterkontrole ernannt.

Ausland.
Frankreich. Paris, 3. Mai. Der Figaro unter-
bricht heute seine Veröffentlichungen, indem er in einem
Leitartikel das Ergebniß der bisherigen Veröffent-
lichungen zusammenfaßt und sie als ein Werk der
Wahrheit, des Lichts, der Gerechtigkeit und der öffentlichen
Wohlfahrt bezeichnet. Menn auch aus diesen Veröffent-
lichungen weder der Beweis der Schuld noch der Unschuld
Dreyfus' hervorgehe, so bewiesen sie doch, daß gegen
Dreyfus ein kannibalisches Verfahreneingeschlagen worden sei.
Die Veröffentlichung habe den wahren Interessen aller,
namentlich der Armee und des Vaterlandes, gedient.
Paris, 3. Mai. Dem Journal zufolge hat der
wegen Spionirens verhaftete Decrion vor dem Unter-
suchungsrichter Flory erklärt, daß ihm Oberst Henry den
Auftrag ertheilt habe, ihm die Schriften der Familienan-
gehörigen von Dreyfus zu verschaffen. Er habe infolge
dessen einen Einbruchsdiebstahl bei dem Schwieger-
vater von Dreyfus, Hadamard, verübt und dem Oberst
Henry die entwendeten Papiere überbracht.
England. - London, 2. Mai. Cecil Rhodes
hat sich in der Versammlung der Chartered-Kompagnie über
das freundliche Entgegenkommen des deutschen Volkes
und den hohen Charakter Kaiser Wilhelms sehr an-
erkennend ausgesprochen und damit demonstrativen
Beifall erzielt.
Italien. Rom, 3. Mai. Das Kabinet hat, nach
einer Berathung, die von 9 bis 11'/^ Uhr dauerte, seine
Entlassung eingereicht. Der Ministerpräsident Pel-
loux begab sich zum König, um Vortrag zu halten. —
Pelloux ergreift eine Gelegenheit, um durch eine Umbilvung
des Cabinets dessen parlamentarische Stellung zu befestigen.
Die „Los von Rom"-Bewegung in Oesterreich.
^ Heidelberg, 4. Mai. Im großen Saale der Harmonie
sprach gestern vor einer Zuhörerschaar, die den Raum dicht be-
setzt hatte, Herr Pfarrer Lic. B r ä u n l i ch von Wetzdorf aus
eigener Anschauung über die „Los von Rom"-Bewegung unter
den Deutschen in Oesterreich.
Redner ging von der Voraussagung eines klugen Mannes
aus, der vor 30 Jahren seiaem Freund rieth: Laß Deinen Sohn
Theologie studiren, denn das Jahrhundert wird mit religiösen
Erörterungen schließen. Obgleich man damals viel eher ein Er-
löschen des Glaubensbcwußtseins und des Interesses an religiö-
sen Dingen hätte prophezeien dürfen, so habe jener Mann Recht
behalten. Das Glaubensbewußtsein, der Drang zum Glauben,
die Abwendung von dem Materialismus und die Zuwendung zu
religiösen und moralischen Idealen sei am Schluffe des Jahr-
hunderts wieder lebendig geworden. Zuerst innerhalb der kathol.
Kreise, wo weite Schichten in einen Zustand der religiösen Ver-
armung gerathen waren (man denke an den Leo Taxil'schen
Schwindel) oder den geistigen Zwang peinlich empfinden. So
auch bei den deutschen Katholiken in Oesterreich. Es gehe das
Sehnen nach einer Religion durch weite Kreise, die ein Mensch
mit denkendem Sinn annehmen kann. So sagte dem Redner ein
katholischer Bürgermeister in Oesterreich, es laste ein Alpdruck
auf den Deutschen in Oesterreich, viele ersehnten eine religiöse
Aenderung, hofften eine Erleichterung, eine Besserung von der
Hinwendung zum Protestantismus.
Redner führte dann aus, daß der geschichtliche Erfolg des
Protestantismus wohl genügend sei, um die kath. Völker, namentlich
die katholischen Deutschen Oesterreichs, zu Betrachtungen anzuregen.
Ueberall in der ganzen Welt zeige sich, daß die protestantischen
Nationen ihre Kraft erhalten und wahren, ihre Macht und ihr
Ansehen vermehren, während die katholischen zurückgegangen sind
und zurückgehen. Was ist, so fragt er, aus den Iren geworden,
die einst eine Art von geistiger Vormacht besaßen, ehe sie dem
römischen Katholizismus sich ergeben halten? Sie sind zur Un-
bedeutendheit herabgesunken. Die Polen sind einst die slavische
Hauptmacht gewesen; sie waren schon fast ganz protestantisch.
Dann wurden sie wieder gut katholisch gemacht und heute sind
sie als Nation ohnmächtig. Bei den Romanen geht es ebenso,
mit Ausnahme der französischen Schweizer; die erhalten sich und
kommen weiter. Die sind aber sehr bemerkenswerther Weise
protestantisch. Was ist aus Portugal, was aus der einstigen
Weltmacht Spanien geworden? Wie geht es mit Italien und
mit Frankreich? Dagegen sieht man überall die protestantischen
Nationen im Aufsteigen. Selbst kleine protestantische Staaten
wie Norwegen, Schweden, Dänemark und Holland bewahren ihre
nationale Kraft und mehren sie. Und nun Deutschland. England,
die Vereinigten Staaten von Nordamerika, haben diese prote-
stantischen Länder nicht die Herrschaft der Welt in den Händen?

Selbst im Kleinen kann man den kraftspendenden Charakter des
Protestantismus erkennen. Die 500 000 kathol. Schwaben im Banat
sind heute nur noch deutschverstehende Magyaren, die 200 0 00
protestantischen Sachsen in Siebenbürgen sind heute noch stramm
national deutsch, in ihrem Deutschthum trotz der sie umbranden-
den Völkerfluthen unerschüttert. Maria Theresia gründete in
Galizien einige katholische und einige protestantische deutsche
Dörfer. Die katholischen sind spurlos im Slaventhum auf-
gegangen, die protestantischen sind heute noch- unerschüttert
deutsch und ragen als Spracheninseln aus dem flavtschen Meer
hervor. Was wird nun aus den deutschen Katholiken in Oester-
reich werden? Dieses neun Millionenvolk kämpft beute einen
Kampf auf Leben und Tod um seine Nationalität. Der deutsche
Volksstamm in der Ostmark ist zweifellos sehr begabt. Vor der
Reformation, als die natürlichen Anlagen allein, nicht die Er-
ziehung den Ausschlag gaben, stand er an der Svitze der Deut-
schen und Oesterreich war der Mittelpunkt Deutschlands. Die
protestantische Erziehung gab dann Preußen einen Vorsprung,
der immer größer wurde, und heute müssen die katholischen Deut-
schen in Oesterreich nm ihre nationale Existenz kämpfen. Sollte
das ein Zufall sein?
So fragt sich auch mancher katholische Deutsche in Oesterreich;
man sieht und fühlt dort, daß die protestantische Erziehung die
Völker vorwärts bringt, dazu kommt daß die deutschen Oesterreicher
sehen müssen, wie ihre Geistlichkeit nicht nnr nicht für das
deutsche Volksthum eintrttt, sondern sich direkt auf die Seite der
Gegner des Deutschthums stellt. Dadurch sind die deutschen
Katholiken Oesterreichs in eine Verzweiflungsstimmung gerathen,
sie sehen sich nach Reitling um und aus dieser Stimmung ist zu-
erst der Ruf erschallt: Los von Rom!
Man kann aber die Beobachtung machen, daß in der Bewe-
gung, die aus nationalen Nöthen hervorging, immer mehr der
religiöse Charakter hervortritt, so daß er heute schon den natio-
nalen überwiegt. Viele Deutsche Oesterreichs finden in dem
Katholizismus nicht die religiöse Befriedigung, die sie suchen.
Als Kaiser Joseph dem Protestantismus in Oesterreich Toleranz
gewährte, traten im Umsehen 74 600 Personen zum Protestantis-
mus über. Leider starb der Kaiser viel zu früh.
Was nun das Aeußerliche an der „Los von Rom"-Bewegung
anbetrifft, so wurde das Wort „Los von Rom" zuerst iw
December 1897 von einem kathol. Studenten in einer öffentlichen
Versammlung ausgesprochen und am Tage darauf auf dem
deutschen Volkstag in Wien wiederholt. Es war ein Wort aus
dem Geist und aus der Noth der Zeit heraus und rief ein Echo
in allen Theilen Deutsch-Oesterreichs wach. Einer der Führer
der Bewegung, Schönerer, stellte den Plan auf, es sollte ein
großer öffentlicher Uebertrilt erfolgen, wenn sich 10000 Personen
dazu gemeldet habe» würden. Anderen war dieser Plan als zu
theatralisch, zu demonstrativ nicht sympathisch. Ob diese Be-
denken herechtigt sind, bleibe dahingestellt. Solche Beispiele im
Großen haben eine große Wirkung und reißen manchen Zaudern-
den und Aengstliche» mit. Wie dem auch sei, der Schönerer'sche
Plan ist noch nicht ausgeführt, wohl aber sind an sehr vielen
Orlen Uebertritte in kleinen Gruppen erfolgt. In Wien z. B.
traten im letzten Jahr 600 Personen über.
Aus zahlreichen Briefen, die der Redner verlas, war zu er-
sehen, wie nicht nur aus nationaler, sondern auch aus geistlicher
Noth die Sehnsucht nach dem Austritt aus der römischen Kirche
zunimmt. Ein kathol. Geistlicher schreibt dem Redner: Viele
unsichtbare Hände strecken sich Euch entgegen, weshalb ergreift
Ihr sie nicht? 21 kathol. Geistliche haben sich zum Ältkatholi-
zismus angemeldet.
Leicht wird es den deutschen Katholiken Oesterreichs nicht ge-
macht, zum Protestantismus überzutreten. In der Reformations-
zeit war Oesterreich zu ^/„tel protestantisch geworden, somit
ausgesprochener protestantisch als irgend ein Theil Demschlands.
Mit den schlimmsten Gewaltmaßregeln hat man die Deutschen
dort zum Katholizismus zurückgeführt; mit Maßregeln, die aus
demselben Geiste wie jene damals geboren sind, sucht man sie
jetzt am Austritt zu hindern. Die katholische Presse wüthct und
fordert direkt Ausrottung und Unterdrückung der Bewegung. In
gemeinster Weise sucht sie die Bewegung zu verhöhnen und
lächerlich zu machen. Das hilft allerdings nicht. Auch die Re-
gierungsorgane sind mobil gemacht worden und die Verfolgung
hat begonnen. Die Bücher werden an der Grenze untersucht
und konfiszirt, wenn sie etwas über die „Los von Rom"-Bewegung
enthalten, Vereine werden aufgelöst, Vorträge verboten, Beamte,
die übertreten, entlassen, Privatleute, die das thun, chikanirt.
Das hat das Ausbrechen des Brandes verhinoert, aber unter der
Decke frißt das Feuer weiter um sich, wie Redner aus zahl-
reichen Berichten und sonstigen Zuschriften, die er vorlas, auf-
wies. So wird z. B. die Lutherbivel massenhaft in katholischen
Gegenden verlangt u. s. w.
Die Bischöfe haben einen Erlaß gegen die Bewegung heraus-
gegebeu, in allen kathol. Kirchen wird dagegen gebetet. Das
protestantische Kirchenregiment hält sich in übergroßer Bedenklich-
keit leioer reseroirt, allein die Mehrzahl der protestantischen
Geistlichen Oesterreichs ist mit einer eigenen Erklärung voran-
gegangen.
In die politischen Angelegenheiten Oesterreichs darf man sich
in Deutschland natürlich nicht mischen, allein die protestantische
Bewegung dort darf der Protestantismus unterstützen. Und hierzu
forderte der Redner mit glühenden Worten aus.
Sehr gut ist der Gedanke, es zu machen, wie die Czechen bei
der Czechisirung Böhmens. Jeder czechische Ort sucht sich einen
deutschen aus und arbeitet an dessen Czechisirung- So sollte
jeder deutsche protestantische Ort sich einen katholischen Ort in
der Ostmark aussuchen, um ihn im Bestreben, von Rom loszu-
kommen, zu unterstützen. Besonders ist darauf hiuzuwirken, daß
sich protestantische Gemeinden — und wenn sie auch noch so klein
sind — mit protestantischen Predigern bilden. Das gibt dann
einen Mittelpunkt, um den sich weitere Kreise kristallisiren könnten.
Der zweistündige Vortrag des Herrn Bräunlich machte auf die
Anwesenden einen tiefen Eindruck.

Aus Stadt und Land.
Heidelberg, 4. Mai.
* Der Deutsche Flottenverein veröffentlicht ein Flugblatt iui
Hinblick auf die Vorgänge auf Samoa, das der Beachtung allen
Deutschen aufs eindringlichste zu empfehlen ist. Das Flugblatt
liegt der heutigen Nummer der Heidelberger Zeitung bei.
** Hausverkauf. Geschwister Löwenstein verkauften ihr
Anwesen Untere Straße 28 um den Preis von 48000 Mark an
die Bernhard Seiler Eheleute.
- Polizeibericht. Zwei Frauenspersonen wurden gestern
wegen Umherziehens verhaftet. Ein Reisenoer aus Strümpfel-
brunn, der für eine Pforzheimer Zuckerwaaren-Fabrik reiste, hatte
derselben 2000 Mk. unterschlagen und wurde gestern dahier ver-
haftet. Ein Arbeiter kam wegen Unfugs zur Anzeige.
Mannheim, 3. Mai. Das Groß herzogliche Paar be-
gann den gestrigen Vormittag mit einer Rundfahrt. Der Groß-
herzog und die Großherzogin besichtigten gemeinsam zunächst die
östliche Stadterweitcrung am Wasserthurm und begaben sich so-
dann in die daselbst gelegene Oberrealschule, deren imposanten
Bau sie genau in Augenschein nahmen. Der Besuch der Schule
dauerte nahezu eine Stunde. Besonderes Interesse erregten die
ausgestellten Pläne über verschiedene projektirte Unternehmungen
der Sladtgemeinoe. Von da fuhr die Großherzogin allein in die
Kleinkinderschule der Marienwaisenanstalt und stattete dann noch
dem Luisenhaus einen Besuch ab. Gegen 12 Uhr erfolgte die
Rückkehr in das Schloß. Das Diner fand Nachmittags UM
1 Uhr im großh. Schloß statt. Es lagen 33 Couverts aUi-
Kurz nach halb 4 Uhr fuhren der Großherzog und die Groß'
Herzogin in offener Equipage zum Rennplatz. Um '/.8 Uhr be-
gab sich das Großherzogliche Paar in das Theater. Beim Ein'
tritt der Herrschaften in die Großh. Loge brachte Herr Bürger-
meister Martin ein Hoch auf dieselben aus, in welches das
 
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