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Heidelberger Zeitung (44) — 1902 (Januar bis Juni)

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Nr. 75-100 (1. April 1902 - 30. April 1902)
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Kmntnis hat und znsümmt .... Lassen wir bie
Frage, wer tias Angebot gemacht, ganz unentschieden,
so ist doch sonnenklar, daß Dr. Lieber, der die Verhält-
nisse und die Personen ganz genau kaunte, überzeugt
sein muszte, daß das Angebot auf Antrag oder wenig-
stens unter Zustimmung und ganz gewitz unter Äiit-
wissen der allerhöchsten L-telle gemacht worden ist. Ter
Kaiser erwählt und ernennt seine Räte alle selbst und
käßt sich dieselben nicht von seinen höchsten Beamten aus-
oktroyieren. Von wem der Gedanke ausgegangen ist,
Herrn Dr. Lieber niit einem hohen Staatsamt gleichsam
zu honorieren, ist in der Frage ganz nebensächlich. Es
handelt sich darum, wer zur Äusführung des Gedankens
die Anregung gegeben, mit wessen Zustimmung und iu
wessen Auftrag der Gedanke in Form eines Antrages
an Herrn Dr. Lieber gekommen ist. Ter Lateiner sagt:
Was einer durch einen anderen thun läßt, hat er selbst
gethan." Wenn das „Volksblatt" hinter den vielen Wor-
ten ein thatsächliches Wissen verbirgt, so geht seine Ansicht
unter Hinzunahme früherer Bemerkungen also wohl da-
hin, daß Herr von M i g u e l beim Lkaiser den Gedan-
ken einer Belohnuug Liebers angeregt und daß dann
Herr von Lucanus iu höherem Auftrage über die Bereit-
willigkeit Liebers sondiert hat. Damit sümmt, nach
der „Frankfurter Zeitung" auch, was man sonst in Zen-
trumskreisen hören kaun, daß Lieber einer ihm zugedach-
ten persönlichen Begegmmg mtt dem K'aiser ausge-
wichen sei, vielleicht in der Annahme, daß ihm das
Aemterangebot osfiziell genmcht werden sollte.

Ausland.

Schweiz.

Bern, 22. April. Jm Nationalrat kam
heute derKonflikt mit Italien zur Sprache.
Der Sprecher, der zur Prüfung der Angelegenheit einge-
setzten Kommission, Brosi Solothurn lradikalP erttärte
namens dieser Kommission, der gegen den König Hum-
bert gerichtete Artikel des „Risveglio" sei tief zu be-
klagen. König Humbert sei ein wohlwollender, ^der
Schweiz freundlich gesinnter Monarch gewesen. Sein
Ende durch feige Mörderhand habe in der Schweiz große
und aufrichtige Teilnahme gefunden. Die Ausschreitun-
gen der anarchistischen Presse seien zu verurteilen. Be-
. hörde und Volk seien nicht gewillt, Ruhe und Frisden
des Landes und die guten Beziehungen zu den auswärti-
gen Staaten durch Aufwiegler ungestraft stören zu las-
sen. Der Bundesrat habe aber gegenüber der anarchisü-
schen Propaganda seine Pflicht beobachtet und in dieser
Richtung seine verantwortungsvolle Äufgabe stets mit
Ümsicht und Festigkeit erfüllt. Die Kommission bedaure
den Konflikt, den der Bundesrat nicht gewollt und nicht
verschuldet häbe; der Bundesrat häbe aber nicht anders
handeln können. Jtalien und die Schweiz seien seit Alters
her befreundete, auf einander angewiesene Nachbar-
völker. Es sei daher zu hoffen, daß der Zwischenfall
keine ernsthaften Verwickelungen zwischen den Leiden
Ländern zur Folge haben und bald eine befriedigende
Lösung finden werde. (Beifall.) Einsümmig und ohne
Diskussion beschloß darauf der Nationalrat, von den
Erklärnngen des Bundesrats Akt zu nehmen und seine
Haltung in dieser Angolegenheit zu billigen. — Äutzer-
halb der Schweiz, speziell inItaIien, wird män die
windige Sympathieerklärung des Herrn Brosi nicht
für voll ansehen, solange er sie nicht durch die Erklärung
ergänzen kann, daß die Schweiz gewillt ist, den scheuß-
lichen Ausschreitungen ihrer anarchistischen Presse einen
Riegel vorzuschieben. _ _

Aus StadL mrd Land.

Z St. Jlgcn, 24. April. (N e u e s V o l k s s ch u l h a u s.)
Die Bolksschule, iu welcher weitcrus der grötzte Teil des.Bol-
kes seine Bildung holt, wird gar oft sttefmütterlich behandelt.
Um so mehr ist es anzuerkennen, wenn eine Gemeinde, wie
St. Jlgen, die Einsicht besitzt, datz eine gut eingcrichtete
Schule viel zur Schasfensfreude der Lehrer und Schüler bei-
trägt. Ein Beispiel dieser Hinsicht ist das ncu erstelltc Schul-
gebäude, mit dem zugleich das Rathaus verbunden ist. Die
Einweihung findet <rm 4. Mai statt. Es lohnt sich, das Haus
zu besichtigen; denn die Gemeinde hat keine Kosten gescheut,
sowohl das Aeutzerc, wie auch das Jnnere aufs beste auszu-
statten.

§ St. Jlgen, 24. April. (I u b i l L u m s f e i e r.) Auch
in unserer Gemeinde wird das Jubiläum unseres Landes-
fürsten festlich begangen. Am Freitag morgen findet ein
Schulatt statt, bei welchem die Mnder zum Andenken mit dem
Bildnis des Grotzherzogs beschenkt werden. Am Sonntag
Nachmittag hält der Militärverein im Gasthaus zum Adler
cin Festbankett ab. Der Männergesangverein wird den
unterhaltenden Teil iibernehmen. — Am 4. Juni d. Js.
begeht der Turnverein sein zehnjähriges Stiftungsfest, ver-
bunden mit Preisturnen. Die Vorbereitungen werden jetzt
schon gctroffen.

80. Karlsrnhe, 23. April. (V o l k s s ch u l e.) Nach einer
vom Rektorat dcr stüdtischen Schulen gefertigten vorläufigen
Zusammenstellung beträgt zu Beginn des Schuljahres 1902—-
1903 die Zahl der Schüler der städtischen Volksschulen 9812,
gegen 9666 zu Anfang und 9190 am Schlutz des Schuljahres
1901—1902. Jm laufenden Schuljahre besuchen die ein-

dem Träger des goldnen Mantels; schwer lasteten dessen
wuchtige Falten aüf sdineti Schultern, ja, bisweilen dünkte
es ihm, als halte das Prunkstück die frische freie Luft von
seinen Lungen fern. Jn seltencn Augenblicken, wie ihm jetzt
einer gekommen war, wo es ihm gelang, die goldnc Last
lockernd, tief Atem zu fchöpfen, fragte er sich wohl, ob es
eigentlich ein gute odcr eine böse Fee gcwesen sei, die ihm
das kostbare Geschenk dargebracht hatte? Der Abend sank
herab. Es wurde kühler. Der rote Streif, der vom westlichen
Himmel durch das Baumgezweig schimmerte, verlosch all-
mählich. Der Professor erhob sich und schritt gedcmkenvoll
gesenkten Hauptes dem Ausgange zu .

Der Hos war menschenleer. Nur in der Laube links vom
Thorweg satz der Maler und verzehrtc sein Abendbrot, seelen-
vergnügt in Voraussicht der Bestcllungen, die ihm für morgen
bevorstanden.

Der Professor lüftete den Hut ein wenig und nickte
ihm zu.

Wenn er sich's recht überlegte, Glückskind, das er war,
die Zeiten, da er hier gesessen, arm an Mitteln, reich an Hoff-
nungen, das waren doch die besten in seinem Leben gewesen.

- Schöne Wirklichkeiten — schönere Träume l
E n d e.

fache Bolksschule einschlietzlich Hilfsklassen 2396 Kinder gegen
2388 im letzten Schuljahr, die erweiterte Volksschule 5192
gegen 5033, die Vorschule 931 gegen 881, die Bürgerschule
806 gegcn 319, und dic Töchterschulc 987 gcgen 950.

X Patentbericht für Vaden vom 22. Avril 1902, mit-
geteilt vom Jnternationalen Patentbureau C. Kleyer in
Karlsruhe lBaden), Kriegsstraßs 77. (Auskünfte ohne Recherchen
werden den Abonnenten dieser Zeitung kostenfrei erteilt.
Die Ziffern vor den betreffenden Nummern be,eichnen die Klasse.
Patentanmeldungen: 9. G. 16 511. Reihenbohrmaschine.
H. Gaucklu, Karlsruhe, Putlitzstraße 6. 28. Oktober 1901.

80 a. B. 30 930. Selbstthätige Steuervorrichtung für Pressen mit
kreisendem Formtisch. Brinck u. Hübner, Mannbeim. 30. Januar
1902. Patenterteilungen: 64b. 131695. Flaschenspül-
maschine mit abklappbarer Bodenbürste, bet welcher wit der
Bodenbürste ein Wasserzuflnßhahn in Verbindung steht. Firma
Carl Cron, Mannheim. 14. Juli 1901. Gebrauchsmuster-
Eintragungen: 34 g. 172 614. Betlstellenseitenteile zum Hoch-
klappen, mit Hebelverriegelung, zwecks leichten Etn- und Aus-
nehmens der Matratzen. Otto Hügle, Mannheiw, I-. 12, 8.
5. Mürz 1902. 33 o. 172 295. Haartrocken-Apparat, gekennzeichnet
durch elektrische regulterbaie Lufterwärmung. Hermann Bieler,
Karlsruhe i. B., Kaiserstraße 227. 19. Februar 1902. 68 ä. 172 610.
Gerüuschlose Schiebethür-Geradführungseinrichtung mit in Thür-
breite neben der Thür untergebrachter Lenkerkonstruktion. Theodor
Hubcr, Karlsruhe i. B., Marienstraße 76. 4. März 1902.

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Wom Mozeß Mnsolino:

Auf dcm Wege nach Lucca hat Heinrich Heine 1828 die
Wcrhrnehmnng gemacht, datz es dvrt keine Philister gicbt, oder
wcnigstens keine plump deutschen Kärtoffelphilister, svndern
nur italienische Orangcnphilister. Daran wird man erinnert,
wenn man heute mit anfieht, wic in demselben Lucca die
Schwurgcrichtsverhandlung gegen dcn Banditen und mehr-
fachen Mörder Musolino zu einer allgemeinen Volksbe-
lustigung wird. Zuerst hat Attisolino aus das Publikum nicht
gerade einen günsttgen Eindruck gemacht. Die unscheinbare
kleine Gestalt, das blasse Gesicht, das unstetc, von langen
Wimpern überschattete Auge, die hervorstehcnden Kinnbacken
berratcn den entcrrteten, grausamen, gewissenlosen Neurasthe-
niker. Ein aus Rcggio kommender gerichtsärztlicher Befund
crklärt Musolino für cinen erblich belasteten. Epileptikcr; vor
allem beherrscht ihn jedcnfalls der Dämon der Eitelkeit.
Mit brennender Spannung blickt cr umher, er spreizt sich, wirft
sich in die Brust — eiu tragikomisches, abstotzendes Bild.
Das Publikum, das cinen männlich schönen, romanttschen
Briganten zu sehen hofft, känn seine Enttäuschung nicht ver-
hehlen. Eine Stimme ruft: „Du armseliges Krummbein!"
(Heiterkeit.) Aber bald ändert sich dies, so daß der Be-
richterstatter des „Berliner Lokalanzeiger" schreiben mutz:

Es ist jetzt schon nicht mehr zu leugnen, Musolino hat
sich die Sympathie dcs Publikums, der Geschworenen, ja sogar
seiner Richter in Lucca mit einem Schlage gewonnen. Seine
Persönlichkeit beherrscht die ganzc Verhandlung. Wenn er
lacht und seine blendend weitzcn Zühne zeigt, lacht alles mit
ihm, wenn zwischen seinen langen, schweren Wimpern bittere
Thränen hervorquellen, schluchzt gleich das ganze Publikum,
und wenn aus seinen Augen die wilde, ungebändigte Nattirkraft
in trotzigem Zorn hervorsprüht, da geht ein Schauer der
Furcht durch das Auditorium, als ob der gefürchtete Brigant
im nächsten Augenblicke die Kctten sprengen könnte, die seine
Kraft seffeln.

Jmmer klarer aber gcht aus dem Prozeß hervor, datz
Musolino thätsächlich das Opfer eines Justizirrtums gcworden
ist und unschuldig zu 21 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.
Er hatte baher rccht mit seincr Weigerung, in Sträflings-
kleidern vor den Geschworenen zu erscheinen. Scine Antwor-
ten klingen anfrichtig, die Art, wie cr seine Verteidigung
führt, zeigt, datz man es mit einem herborragend begabten
Naturmenschen zu thim hat, dcr wie allc seine Landsleute
in Calabrien rücksichtsloscn Mut und rittcrliches Auftrcten be-
sitzt, der ein Menschenleben niedriger als einen Pfifferling
einschätzt, der aber die Ausführung der Vendetta als eine
heilige Pflicht erachtet. Was ihn aber vor allen seinen Lands-
leuten auszeichnet, ist die kolossale Willcnskraft und seine
grotze Jntclligenz. Er hat viele Menschen getötet, aber
keinen hinterlistig, er hat niemand beraubt, niemmid ver-
gewaltigi. „Wenn Musolino Frauenliebe hätte häben wollen"
— so sagt er vor dem Richter aus — „hättc er sie bekommen,
aber das wäre eine moralische Gewaltthat gewesen." Charak-
teristtsch ist die Erzählung seiuer Flucht aus dcm Gefängnisse,
die er den Geschworenen gab, und die ich in wortgctreuer
Nebersetzung hier folgen lasse. Musolino sagte aus: „Jn der
Weihngchtsnacht tränmte ich, ich stände am Rande eines Ab-
grundes. Hinter meinen Schultern hörte ich eine Stimme.
Jch drelste mich um und sah eine Gestält emportauchen, die
mir zurief: „Was dcnkst du?" — „Was ich denke? An mein
Schicksal, giebt es cinen Unglücklicheren als mich? Jch denke,
datz die Menschen mich ermorden, datz die Tiere besser nnd
ehrenhafter sind, als dic Menschen. Entschuldigt, verehrte
Herren, es giebt Ausnahmcn., aber allgemein verursacht die
Menschheit uncndlich viel Mehr Elend als die Tiere. (Er
hält wie in Ekstase inne und fährt fort): Die Traumgestalt
sagte mir: „Hoffe, du bist nicht tot, befiehl dich Gottl" „Was,
Gott?I" antwortete ich. „Jch glaube nicht an Götter nnd
himmlische Väter!" Da sprach die Stimme stärker: „Hoffe,
aber fluche nicht, du wirst diesen Ort hier verlassen und dich
an deinen Feinden rächen." Am anderen Morgen erzählte
ich diesen Traum meinem Zellengenossen, der mich auslachte.
Jch aber sagte: „Jch glaube cm diesen Traum und werde dort
ausbrechen, woher die Erscheinung kam. Wenn es mir glückt,
so will das sagen, datz Christus es will. Und der Durchbruch
gelang. Jch konnte ihn nicht mit meiner Klngheit machen,

benn gerade dort war ein grotzer Felsblock eingcmauert. Wick
Sie mich sehen, ich habe die Krafr eines normalen Menscysn.
Wie konnte ich diesen Riesenblock ohne göttliche Hilfe bewegen,
wie konnre ich drei Tage und drei Nächte arbellcnj ohne datz
die Wächter es merkten, wcnn ChristuS es nicht wollts? Abec
ich betäm Ricsenkräfre; die schwere Eisenstange aus meinern
Bett handhabte rch wie ein Kinderspicl, das Fleisch löste sich
von meinen Händen bis auf dic Knochen, rch litt nicht, fühlte
rnchtsl Meine Herren Geschworencn, sucht mich zu verstehen,
ich wollte, ich wäre Toskaner und nicht Calabreser, so würde
ich es noch eindringlicher können sagen. Als wir flohen,
blnteten unsere Fütze von Steinen und Dornen. Jch sühlte
keinen Schmerz. Ich war überzeugt, keine Kugel könnte mich
verwunden, falls man auf mich schietzen würde, so rein und
heilig war meine Unschnld. Vier Tage und Nächte wanderten
wir nach Aspromonre, wohin das Gerüchr meincr Flucht
bercits vorausgeeilr Ivar. Die Gcbrüder Zoccali, meine Tod-
feinde, rüstelen sich zur Jagd auf mich. Sollle ich, der ich
zuerft unschuldig verurteilt worüen war, nun in der Cam-
pagne ermordet werden? Aber Christus starb für die Welt,
und ich würde mich auch töten lassen, um eincn Unschuldigen
zu rctlen. Aber was retrere ich mir meinem Tode? — Nur
meine Schmachi" — Dann erzählte er sein Zusammentrefsen
mit dem Polizeispitzel Angeloni. „Jch hatle die Flinte auf
dem Rücken. Er ritz die seinige an die Backe. „Halt," don-
uerle ich ihm zu, „wenn dir öein Leben lieb iscl Musolinv
fehlr nichr, dn aber kannft sehlen, vorwärts, lrisfl" — Da
warf er die Flinte weg, umfatzre meine Knie nnd vai um sein
Lebcn. Jch sagte: „Du verdienst den Tod, du bist aber Vater'
von sechs Kindern, dcswegen lasse ich dir nur einen Dcnk-
zettel," und schotz ihm aus weiter Entfernuug eine Ladung
Schroi in die Beine."

Bei der Verfolgung eines anderen Polizeispitzel geriet
er mit den Carabinieri zusammen. Hiervon gicbr er folgende
Schrlderung: „Plötzlich schotz eincr auf mich. Jch rief ihnr
zu: „Um des Himmels willen, nicht schießeu, latz mich frei
vorüber! Jch lhue dir nichlsl Jedoch, edelste Herren Ge-
schworenen, der ivar ein Soldar und mutzte seine Pflicht thun-
Er schoßl Noch heute beklage ich den Unglücklichen aufrrchtig-
— Was thun? Da hürte ich wiedcr eine Kugel am Ohre
vorller schwrrren. „Ums Himmels willen," rief ich, „zwinge
mich nichl." — Jeht sehc ich dorr den Vatcr des Carabiniere
und weinte mit ihm, als ob es sich um mcinen Bruder han-
delte. Gestern, als ich ihn so trckurrg und niedergeschlagcn
sah, krampfre sich mir das Herz zusammen. Meine Herren,
ich mutzre rhm den Sohn crmorden, ich mutzte mich vcrteidigen,
ich wollre rhn nur verwunden. Glaubt nicht, datz ich aus
Vcrstellung weine (er schluchzt bitterlich). Jch bin keist
Manii, der eine Komödie aufzuführen imstandc ist. Jch be-
weinte den jungen Mann mehr, als ich Vatcr und Mutter
beweinte. Er hat mir nichts gethan. Er hätte mich rnit
einer Hand fcsthalten können, so abgehetzt war ich — er'

schotz "

Darauf fragte der Präsident: Tötetet Jhr Pasquile Sara-
zena?" Musolino: „Er machte den Spitzcl." Präsidcnt:
„Stelltet Jhr dem Leben Romeo Cesares aus dem Hinterhalte
nach?" Mnsolino: „Nie, nie aus dcm Hinterhalte." Prü-
sident: „Nach der Ermordung Zoccalis — nahmt Jhr ihw
200 Lire?" Musolino: „Jch verlassc sofort den Gerichtshof
und spreche kein Wort mehr. Man entchrt einen Musolino,
indem man ihn des Diebstahls bezichtigt." Präsident: „Stell-
tet Jhr Stefano Zarilli nach?" Musolino: „Er war eid
Spion, icki gab ihm einen Denkzettel."

Musolino gicbt alle Mordthaten unbedingt zu, indem er'
sie als eincn Akt der Notwehr odcr Rache bezeichnet. Dä
Schuld seiner vier Mitangeklagtcn nimmt cr ganz auf siw-
So wird der Prozeß seinen regelrcchten Fortgang nehmen,
den Justizirrtnm der crsten Verurtcilung klarstellen und MU^
solino von nencm bis an sein Lcbcnsende rns ZuchthaNi-
bringen, ans dem es diesmal kcin Entrinncn mehr giebt.

Er bützt damit für die soziale Verwahrlosung, in der Ca^
labrien von allen Regiernngen gelassen worben ist; er, bE
für die mittelalterlichen Rechtsanschauungen Calabriens, i:'
denen er aufgewachsen ist, und an cheren Beseitigung weder
Schule noch Kirche genügend gearbeitet haben. Er ist kcrN
gewöhnlichcr Verbrecher, sondcrn verdicnt wcnrgstens eincN
Teil des Mitleids, das ihm das iralicnischc Volk rm Ilebermaü
entgegenbringt.

Ganz ergenartig ist, wie Musolino sich dcn Richtern, dclN
Staatsanwalt, den Verteidigern nsw. gegenüber benimmt.
gebärdet sich immer, als ob er der Hcrr vom Hause wätt,
bald ruft er den Advokaten oder den Gensdarmen, bald dc>n
Publikum etwas zu, und einem Arzt, dcr als Sachberständig^
gerufen ist, macht er die schmeichelhafte Bemerkung: „Jch bä
chrlr'cher als Sie!" Jn seinem Verhör beginnt er mit dcN^
Präsidcnten ein langes Zwiegespräch über seine Gefängni^
tracht und schlietzt es mit dem Satz: „Sre sind ein PräsidcnN
aber wenn man Jhnen einen Bauernkittel anzieht, hält jcdc
Sie für einen Bäuer." Wenn ihm dic Fragen des Präsidentc^
über seine Verbrechen zuviel wcrdcn, beschwert er sich, dao
man ihn belästige, und hüllt sich mit der kurzen BemerkunA'
„Jch vertage die Sitzung auf morgcnl" in tiefes Schweigc^'
Der Präsident fragt weiter und evhält keine Antwott?
Schlietzlich reitzt ihm die Geduld und — er bietet alle Ucbc^
rednngskünste auf, um den Verbrecher zum Reden zu brnn
gen. Endlich gelingt es, abcr nach cin paar Minuten sasi
Musolino wieder: „Es rst unnütz, daß wir uns in Gesclstnn,
berlieren. Haben Sie nicht gehört, daß ich alles auf morgc^
vertage?" Schlietzlich mutz der Prcisident, dem auch die
teidiger zusetzen, daß er Musolino ärztlich untersuchen ln)> '
in der That die Sitzung aufheben. Jn der folgenden Sitz"),',
patzte dem Angeklagten wieder eine Fragc des Präsidcntc
nicht, und er erklärte, wcnn mmr ihn nicht reden lassc, tzZ
es ihm passe, so werde das Verhör in zehn Jahren noch tjl.x
beendet sein; der Präsident solle ihn in Ruhe lassen.
Vorsitzende bemühte sich wieder, den Angeklagten mit 6>n
zu überreden, und gestattet scbliehlich, datz dieser, statt bi.
fragt zn werden, nach seinem Gutdünken erzähle. Jm
dieses Berichts rrihmt sich dann Musolino, er habe nic >o^
mand hinterrücks getötet, er wisse, toie man cincn „auf
bildete Weisc umbringe." An einem der solgenden Vcrhan
lungstage bringt der Präsident die Rede auf cine Gcldtai ^
die aus den Kleidern eincs von Musolino Ermordoten ^
schwnnden sei, und mutz sofort von dem Angeklagten die y,,,
rückweisung einstecken: „W^nn Sie von der Geldtasche rc- ^
gehe ich tveg. Jch bin kein Dieb. Entschuldigcn Sie,
ich gehe." Auf neue Beschwichtigungsversuche antwo^,,
Musolino: „Nein, ich Ivill in mein Gefängnis zurückkcltz
Sic haben mich zu schwcr beleidigt," cntschlictzt sich aber c> ^
lich, zu bleibcn, „untcr dcr Bedingung, datz nicht mehr
der Geldtasche gesprochen Ivird". Und der Präsident r
nicht mehr davon. Jn dieser Tonart geht die Verhanvu ^
weiter, gerade als ob in Jtalien kein Strafprozetzverfav ^
bestände, und als ob dic Richter und Geschworenen nrvc
ivären, um sich vom Angeklagten mr der Nase herumführctz^
laffen. Die Zuhörerschaft von Lucca unterhält sich
dabei, das übrige Jtalien mit Hülfe der langen ZertUlLp
berichte ebenfalls, und alle bezeugen damit, datz sie keine 4-^
lister sind, sondern auch einem Mordprozetz eine lustige 4-
abgewinnen können. Glückliche Kinderl
 
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