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Heidelberger Zeitung (44) — 1902 (Juli bis Dezember)

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Nr. 203-228 (01. September 1902 - 30. September 1902)
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Mittwoch, 24. Scptkmbkr 1SÜ2._Zweites Blatt._4t. Zihrgang. — I>r. 223.

Trscheiut läglich, Sounrags ausgenommen. — Prns mit Familiendlättern monatlich Sv Pfg. in'S HauS gcdrachi, bei der Expedition und den Zweigstellen abgeholt 4V Pfg. Durch die Post be.

zogen vierteljährlich 1.35 Mk. auSfchlteblich Znstellgedühr.

AuzeigenpreiS: 20 Pfg. für die Ifpaltige Petitzeile oder dercn Raum. Reklamezcilc 40 Pfg. Für hiesigc Gefchäfts- und Privatanzeigen ermäßigt. — Für die Aufnahme von Anzeigen an bestimmt
»orgeschriebenen Tagen wird kcine Verantwortlichkeit übernommen. — Anschlag der Jnferate auf den Plakattafeln der Heidelberger Zeiking und den städt. Anschlagstellen. Fernsprech-Anschluß Nr. 82

Z>er deutsche Werein für öffentliche Oesund-
yeitspffege.

M ü n ch e n, 10. Septeinüer.

Der hcutigen dritten Sitzung des Vereins ivohnte der
bekannre Arzt Priiez Ludwig Fcrdinaisü bei. Obcrbürgermeistcr
Dr. EbeIing sDessau) berichtete eingehend über die von
den Städten eingegangcnen Fragebogen betreffcnd die Für-
forge für bestehende und die Beschaffung neuer kleiner
Wohnungen. Der Redner, dem natürlich reiches Mate-
rial zur Verfügung stcht, griff nur die interesfantestcn Purckte
heraus, die zur Genüge darlegen, daß die Wohnungsnot drin-
gend ist, obwohl dieselbe von den Baugewerkschaftlern nicht ml-
erkmrnt wird, ebenso wie die Hausbesitzerinnung die Woh-
nmlgsnot stets mit dein Worte Modcsache abzuschüttcln sucht.
Die Statistik, die sich aus den eingegangenen' Fragebogen cr-
giebt und deren Zahlen derttlicher als alle Ausführungen für
die Wohnungsnot sprechen, soll demnächst im Druck erscheinen.
Nach der Neuwahl des Ausschufses ergriff Mcdizinalrat Doktor
Abel (Berlin) das Wort, der sich mit Baupolizeidirektor
Olshausen (Hamburg) in das Thema Feuchte Woh-
nungen, Ursache, Einfluß auf die Gesundheit und Mittel
zur Abhülfe teilte. Es giebt sogar Städte, in deren Wohnun-
gen jedes zwanzigste Zimmer seucht ist. Die Ursachen der
Feuchtigkeit liegen erstens in der Bauweise der Häufer und
zweitens in dcr Benutznng und Erhaltungsart. Dauerndc
Feuchtigkeit wird hervorgerufen durch ungenügende Sicherung
der Fundamcntierung gegen Ueberfchivcmmung, Bodeiifeuchtig-
keit und Grundivasfer, wodurch nicht nur die Keller fcucht
wcrden, sondern oft alle Wände bis in die höchsten Stockiverke.
Salzreiches Wasser bei der Bereitung des Mörtels ift eben-
falls eine Feuchtigkeitsursache, >desgleichen schlechte Herstel-
lung der Dachüeckung und schlechter Verputz. Als vorüber-
gehende Feuchtigkeit ist die Neubaufeuchttgkeit, die durch Ver-
dunstung aufgehoben ivird, anzufehen, desgleichen diejenige
Feuchttgkeit, die dnrch gesundheitswidriges Benutzen der Woh-
nnng entsteht, nämlich durch Waschen in der Kü ch e, be-
fonders ohne genügende Lüftung, durch unpassenÄes Oeffnen
der Kelleffenfter, durch unvoffichtiges Umgehen mit Wafser mid
dergleichen. Daß fenchte Wohnungen gefundjsheitsschädlich
sind, weiß jedermann. Es sind keine spezifischen Krarckheiten,
welche -'ie Feuchtigkeit nach sich zieht; wohl aber werden bor-
handene Krankheiten verschlimmert, die Widerstandskraft des
rnenschlichen Körpers herabgesetzt. Für diejenigen, die an
Rheumattsmus, sogenamttem Reißen, Neuralgie, Schnupfen
nnd Bronchialkatarrh leiden, ist selbftverständlich eine fenchte
Wohimng besonders uiiangenehm. Wer jemals Gelenkrheuma-
iismus gehabt hat, tvird ihn rn feuchter Wohnung nicht los
tverden. Das Schlafen an iiasscr Wand, die ein guter Wärme-
keiter ist, ist besonders schädlich, weil sie dem Menschen Wärme
eiitzicht, die er im Schlaf durch Vermindevung dcr Verbren-
Nung in erhöhtcm Maße bcnötigt. Ein schädlicher Einfluß aiff
die Gesundhert entsteht durch die Zersetzung der Nahrungs-
niittel in seuchter Lust, wodurch oft Darmkrankheitcn hervor-
gerufen werden. Kleine Kinder und besondcrs Säüglinge
leiden sehr durch den Aufenthalt in Wohnungen, der ihnen
biel Wärme entzieht. Daß den mcist armen Bewohnern der
seuchtigkeitstricfenden Wohnungen schließlich der Sinn für
Reinlichkeit und Ordnung verloren gcht, ergiebt sich von selbst.
Der Derliner Volkswitz sagt von solchen Wohnungen, datz
aer Hanswirt eigentlich verpflichtct wäre, einen Schwimm-
Zürtel mit zu bcrmieten, damit sich Frau und Kinder wenig-
stens solange über Wasser halten könnten, bis ihnen Schwimm-
häutc gewachsen wäven. Der Refcrent empfiehlt dringend, die
offentliche Gesundsheitspflege möge sich der fenchten Wohnnn-
ken annehmen. Feuchtigkeit in älteren Gcbäudcn ist meistens
ouf Mangel an Licht und Luft zurückzuführen; doch sollte man
don altern Gebäuden bollkommene Trockenheit verlangen, wäh-
leiid man in Bezng anf Ncubanten nicht so streng vorzugehen
^ötig bat, da die Feuchtigkeit eine vorübcrgehende ist. Die

Frage, wann ein Iieubau bewohnüar sei, ist schwer zu üeant-
worten. Die jeweiligen Bauordnungen lauten fast immer da-
hin, daß ein Neubau dann bewohnbar sei, ivenn er genügend
odcr hinreichend ausgetrocknet wäre. Das ist aber ein »veiter
Begriff. Dei Probe an einem Neubau nimmt man am bestcn
nach dem Rezept eines alten Sprichwortes vor, indem man
im ersten Jahre seinem Feind, im zweiten seinem Freunde die
Wohnung überläßt; erst im dritten Jahre sclbst einzieht. Das
beste Mittel zum Austrocknen eines Neubaues ist die Benutz-
iing, weshalb die sogenannten Trockenmieter sehr gesucht sind.
Obwohl das Publikum den schädlichen Einflutz der feuchten
Wohnräume genau kemtt, wird doch in den meisten Fällen
viel zu wenig Wert darauf gelegt. Teils aus Schlendttan,
teils aus Bequemlichkeit werden alle nwglichcn und unmöglichen
Rücksichten selbst bei wohlhabendercn Familien der Gefahr
dcr Gesundheitsschädlichkeit vorangestellt. Schon vor achtzig
Zahrcn jchrieb ein Arzt, daß er eine Paticntin auf keine Weise
veranlassen konnte, ihre feuchte Wohnnng zu verlassen. Erst
als sie ihren Sonneiischirm und ein Paar Stiefel mit Schim-
mel überzogen fand, entschloh sie sich, die gesundheitsgefährliche
Wohnung auszugeben. Baupol^zeidirektor Olshausen fühtte
die Leitsätze dcs Herrn Dr. Abel weiter ans, besonders in den
Punkten, die in scin Fach fallen. Eine große Feuchtigkeits-
gefahr ist in kanalisierten Städten die Zurückstanung in den
Kaiiälcn, wodurch das Grnndüvasser oft sehr hoch steigt. Wenig
Mittcl sind zur Verhindermig dieser Gefahr vorhanden. Die
Baupolizei sollte ihre Aufmerkfamkeit mchr auf die Dicke der
Mauern richten, dünne Wände bcfördern die Feuchtigkeit; zu
empfehlen wärcn dicke Mauern', die durch cine Luftschicht in
zwei getrcnnt sind. Redner fühtte ans, daß die gesetzliche
Zcit zwischen Vollendung des Rohbaues und innerem und
änßercm Derputz in >den veffchiedenen Städten unglaublich ver-
schieden ist; Hamburg kennt überhaupt keine solche Frist. Die
so schr beliebten Koksöfen zum Austrocknen von Neubauten ftnd,
abgcschen von der Feuersgefahr, gesundheitsschädlich für die
Arbeiter. Die Erprobung von Neubanten auf vollkommene
Trockenheit ist äußerst schwierig. Bei der hierauf eröffneten
Diskussion wifft Jnspektor Gttindler (Hamburg) die Frage
anf: „Was ist nnter genügend ausgetrockneten Nenbauten zu
verstehen?" Oöerbürgermeister Beck-Mannheim hält eine
jährliche Wohnnngszahlung für das beste Mittel zur Abschaf-
fung der Wohnnngsnot. Mannheim hat bei g r ö ß-
tern Bevölkerungszuwachs in Deutschland
außerCharlottenburg 7 Prozent Ueber-
s ch u ß a n leeren Wohnunge n. Redner empffehlt
eine größere Unterstützung der Privatbau-Unlernehmcr. Bau-
meister Hartwig-Dresden, Vertreter des Hausbesitzervereins,
verwahrt sich nachdrücklich qeqen die Anqriffe Dr. Ebelings qegen
üüer den Baugewerkschaftlern und dem Hcmsbesitzerverein.
Letzterer leugnet nicht ab, daß eine Wohnungsreform notwendig
sei, giiig aber vor gcgen die sogenannten Wohnnngsphanta-
sten. Nledner erbot sich, auf dem nächsten Kongreß einen Vor-
trag über das Kapitel Ilftermicte zu halten, wobei nnglanbliche
Dinge an das Tageslicht kommen würden. v. Sicherer-München
ergänzte hierzu, daß der Münchener Hausbesihcrverein bcreits
die Aftermiete möglichst eingeschränkt und Schlafstcllen ausge-
schlossen hat. Geheimrat Stübben -Köln spricht gegen
den Hans- nnd Grundbcsitzerverein, der die Wohnungsnot ab-
leugne und eine Wohnuiigsreform nicht sur notwendig halte.
Jn neuen Stadtvicrteln feien von dcr Baupolizei Kellerwoh-
nungen nicht mehr zu g>estatten.

Deutfches Reich.

Baden.

8L Bretten, 22. Scpt. (N a t i o n a l l i b e r a l e V e r-
s a m m I u n g.) Zn einer Versamlung des nationalliberalen
Bczirksvereins erstattcte Abgeordneter Dr. Binz-Karlsruhe Be-
richt über die Thätigkeit ües Landtags. Jm Anschluß an den

Bortrag erklärte sich die Bersammlung einverstanden mit dem
Vorschlage, dcr Heidelberger Erklärung gegen die Zulassung -er
Mäiinerordcn vollmhaltlich beizutreten und die Vereinsleitung
mtt der Abgabe dieser Erklärung an das Ministerium zu be-
auftragen. Vor Beginn der Veffammlung fand eine Sitzung
des Parteiausschusses statt, wobei Lie Vefftärkung des letzteren
durch eine Anzahl jüngerer Kräfte und der Wechsel bezüglich
der Person des Vorsitzenden bekannt gegeben wurde. Auf aus-
drücklichcn Wunsch des bisherigen Abgeordnetcn Kögler muhte
mit Rücksicht auf dcssen Gesuiidheitsverhältnisse diese Aende-
rung einttcten; sie geschah in der Weise, daß praktischer Arzt
Dr. Gerbcr den Borsitz und Voffchußveretnskassier Ammann
die Stellverttctung erhielt, mit Baumeister Schweikett als
Schttffführer. _

Ausland.

Amerika.

— Den wirtschaftlichen Zustand der dcutschen Kolonie
Hansa bci Blumenau in Südbrasilien schtldert ein deut-
scher Anfiedler, Dr. Aldinger, wie folgt: Man darf stch
die deutsche südbrasilische Kolonisation nicht so vorstellen,
als ob Dorf an Dorf sich reiht und übersichtliche Feld-
marken in Kullur stehcn. Nur an wenigen begünstigten
Plätzen bietet die Gegend einen dem deutschen landwirt-
schaftlichcn Zustand verwandten Anblick. Geschlossene
Dörfer gibt eS nicht; selbst die sogenannten Stadtplätze
sind weit ausgedehnt. Die Kolonisten wohnen einzeln, jeder
auf seinem Los; sie haben nie ihr ganzes Los (100
Morgen), sondern nur einen Teil in Kultur; das
übrige ist Utwald oder nachgewachsener Wald. Deß-
wegcn ist selbst in den bewohnteren Gcbieten der
Wald, zumal auf den Anhöhen und Bergen — es ist
hier ziemlich gebirgig — das vorherrschende Element; wie
viel mehr noch in einem neu zu erschließenden Gebiet wie
in der Hansa; da stnd die bebauten Kolonistenlose wie
Oasen im grünen Waldmeer.

Aus Stadt und Land.

8L Karlsruhe, 22. Sepl. (U n t e r s ch l a g u n g.) Ein
Reisender mit dem schönen Namen Mordcho Mendel Gronich
aus Czernowitz, der im Laufe des Sommers und Spätjahres
1901 für zwei hiesige Bilderhändler reiste, hatte den Erlös füv
berkaufte Bilder in scine Tasche wandern lassen und für sich
verbraucht und fich ferner mit Hilfe bon gefälschten Beftell-
scheinen Rcisevergütungen von dem einen seiner Auftraggebcr
zu verschaffen gewutzt. Die Sttafkammer veruttttlte ihn
wegen Unteffchlagung, Betrugs und Urkundenfälschung zu
12 Wochen Gefängnis.

LL Müllheim, 22. Sept. (Todesfall. — Wein.^
Jn Auggcn ist der Weingutsbesitzer und Weingroßhändler Ad.
Krafft im besten Mannesalter infolge eines Schlaganfalles ge-
storben. Der Vcrblichene bekleidete mehrere Jahre die Stelle
des Bürgermeisters und genoß großes Ansehen unter seinen
Mitbürgern. — Jn der vergangeiien Woche hat die Entwicke-
lnng der Traubenrcise keine nennenswerten Fottschtttte ge-
macht, wie auch die Witterung der verflosseMi Woche zur
Besserimg des Standes der Trauben nichts Wesentliches bei-
getragen hat. Die Trauben sind in vielen' Gegenden vom
Aescherich bcfallen und weisen stellettweife viele faule Beeren
auf. Dre kühle Witterung der letzten 14 Tage hat denselben
beträchtlich geschadet. Anhaltend warmer Sonnenschein wäre
jetzt sehr notwendig, andernfalls wird die Krankheit der Trau-
ben rafch nm sich greifen und ein frühzeitiges Herbsten bedin-

Aer Hag der Wutter.

Novellette bon Reinhold Ortmann.

(Nachdruck verboten.)

^ Seit vierzig Minuten schon steht Frau Nora Jmgart am
Eenster. Es flimmert ihr vor den Augen von dem angestteng-
ffn Hinabspähen auf die vom grellen Somieiiilicht blendend hell
^beffluttte Stratze. Ilnd in immer kürzeren ZwischenräuMen
Mragt sie ihre kleine üiamantenbesetzte Uhr. >Schon eine halbe
Munde über die festgesetzte Zeit! Wenn er gar nicht käme!
^enn thm so wenig an dem Besuch bei der Mntter läge, daß
^ ihn irber irgend eincm knabenhaften Vergnügen völlig hätte
^ttgessen könnenl O, sie hat längst gefürchtet, daß einmal
^tlvas Derartiges geschehen würde. Denn nicht sein Herz ist
das ihn hierher zieht. Er ist noch zu jung und zu uiwer-
-°rben, um ihr eine Komüdie vorzuspielen; und sic mützte blind
es nicht zu bemerken.

... Wie es nur möglich ist, daß er so wenig Liebe für sic em-
ttrndet — dieser wciche, gefühlbolle Knabe, der einmal vor
^hren üei dem Wechsel eines Kindeffräuleins geradezu le-
^sgefährlich trmrk wurde vor Kummer und Herzeleid. Und
ffbnals handelte es sich um cine fremde, bczahlte Peffon, um
hätzliches, mageres Geschöpf, das nach Frau Noras Mei-
,'si'g selbst für ein Kinderauge ganz und gar nichts Liebens-
haben konnte. Sie erinnett sich noch recht gut, wie
sich trotzig abgewandt, als sie ihn/zu trösten vcffucht hatte,
^ wie zornig sie geworden war, als er ihren Vcrsuchen, ihn
st, ffndere Gedanken zu bringen, immer nur dasfelbe eigen-
r ^jsige Verlangen nach der entlassenen Bonne entgegengesetzt
Aber sie erinnert sich freilich auch des harten Wortes,
jzj ^ ihr Gatte an jencm Tage zu ihr gesprochen, da sie sich über
^ itieblosigkeit des Kindes Vci ihm beklagte.

--Wie sollte Herbcrt dich lieben, da cr dich ja kaum kemit!"
ly ^ seine Antwort gewesen. „Kann es dich Wunder nehmen,
pg 'jfldie schöne, geputzte 'Dame, die ihn gelegentlich auf ein
flüchtige Minuten im Kinderzimmcr bcsucht oder ihn hter

und da in ihren Salon 'holen lätzt, nm mit seinem Lockcnköpf-
chen und seinem sußen Geplander vor ihren Bekannten zu
^aradieren — wenn sie seinein Herzen viel ferner steht, als
die treue, liebevolle Pflegerin und die Vcrtraute seincr kind-
lichen Frenden und Leiden?

O, wie empött sie gewesen war über dies Wort und die
spietzbürgerliche Engherzigkeit, die sie berurteilen wollte, eineni
Kinde zuliebe auf jene kleincn Freuden und Vergnügiuigeil
zu verzichten, die für sie nun einmal den Jnbegriff des
Lebensglücks ausmachten! Es war zu einem heftigen Auf-
tritt gekommen, wie schon so oft in üen iveing'en Jahren ihrer
jiingen Ehe. Und dann ivar alles in dem altcn Geleise wei-
1er gegangen bis zu dem Tage der großen Katastrophe, durch
die ihr Dasein eine so tiefgreifende Veränderung erfahren.

Der Professor hatte einen Brief ihres Vttters Tassilo auf-
gefangen, jenes schönen, glänzendeii Offiziers, der einen gan-
zen Winter hindurch ihr ritterlicher Kavalier gewesen war. Und
wenn auch die kleine Liebelei zwischen ihr nnd ihm nicht viel
mehr gewesen war als ein>e etwas weit getriebene Kokettette
-— wenn auch ihr Gewissen sie frei sprach von eigentlicher
Schuld, so war sie doch zu stolz gewesen, sich zu vertcidigen und
um Verzeihung zu betteln. Jhre Seele dürstete ja auch so
heiß nach Freiheit, sie tvar des verhaßten Joches so müde, daß
ihr jeder Anlaß willkommcn war, die mierttäglichen „Sklaven-
kctten" zu brechen. Fast ohne Bedenken hatte sie dcm
VorschlaA ihres Mannes zugesiimmt, der sie mit einem
Schlage bon allem lästigen Zwang befreite, ausgenommen von
dem einen, vor dem Gesetz auch weiter seine angctraute Gat-
tin zu heihen. Er ging nach dem Süden, um sich ganz in
eine lmige geplantc wissenschaftliche Arbeit zu versenken; sie
aber blieb, nm nach Gefallen ihre Jugend und Schönheit
weiter zu genießen. Und es kostete sie nicht allzu viele Thränen,
datz sie um solchen Preis auch in eine Trenrmng von ihrem
Mnd>e willigen mußte. Denn mit iinbengsamcr Festigkeit hatte
der Professor auf dieser Bedingung bestanden. Das zwischen
ihnen getroffene Wkommen lautete: Herbett kommi in eine
Pensioii, und nicht öfter als einmal in jeder Woche daff er

auf zwei Stundcn seine Mutter besuchen." Das war für Frau
Iiora ein etwas dcmütigendes Arrangement; aber sie hatte
sich darein gefunden. Und seit beinahe drei Jahren schon
erschien er jetzt regelmätzig an jedem Sonnabend, den man
ihm als den „Tag seiner' Mutter" bestimmt hatte.

Aber es sah heute nicht mehr aus !vie vor drei Jahren —-
in Frau Noras Hause ebenso wenig als in ihrem Herzen. Die
goldene Freiheit hatte nicht gehalten, was sie sich oon ihr
veffprochen, die unbarmherzige Welt war der „getrennten
Frau" gauz anders begegnet als der anscheineud glücklich ver-
heiratcten. Auf Schritt und Tritt hatte sie erkennen müssen,
wie unendlich viel sie dem gesellschaftlichen Ansehen ihres
Gatten und wieviel mehr sie seiner Grotzmut und Herzens-
güte zu daiikcn gehabt. Sie war sich der Hohlheit und Ver-
logenheit jeuer vermeintlichen Freunde bewntzt gewovden, denen
zuliebe sie einst, ihre Pflichten vernachlässigt hatte. Und noch
ehe sie selber so recht begriffen, wie es geschehen, war sie
cine einsame Frau geworden. . .

Zugleich mit der peimgeirdeii Erkenntnis ihrer Verirrun-
gcn und ihres Verschuldens aber war in ihrer Seele eine
leidenschaftlich heitze Zärtlichkeit erwacht für das Kind, dem
fie iu dcn Tagen ihrer Thorheit kaum mehr als dem Namen
nach Mutter gewesen war. Jhm allein gehörten jetzt alle
ihre Gcdanken. Und ihr ganzes Siimen und Trachten war nur
noch darauf gerichtet, es für sich zurück zu gewinnen. Ja.
sogar zu eiuer Demütiguug hatte sie sich um seinetwillen
cntschlossen, obwohl sie in allem anderen dem fernen stolzen
Gattcn gcgenüber noch immer den alten Stolz bewahrte. Jn
flehentlichen Worten hatte sie den Professor gebeten, ihr den
Knaben zurück zu geben, mit dem heiligen Gelöbnis, datz
sie ihm uicht nur eine zättliche, sondern anch eine treue und
gewisienhafte Erzieherin sein werdc. Aber die Antwort chres
Manncs war einc bestimmte Ablehmmg gewesen,> ein klares,
unabändcrliches Nein, dessen Schroffhcit jede Wicderholung
ihrer Bitte unmöglich machte.

Schluß folgt.)
 
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