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Heidelberger Zeitung (60) — 1918 (Juli bis Dezember)

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-Nr. 209 Heidelberger Zeitung

Hamstag, Leu 7. SeptenAer 1618

Fernsprecher Nr. 82 und 182

Geüe v

Nicht die frömmelnden, aber die frommen H
Menschen achte und geh' ihnen nach. Ein K
! Mensch der wahre Gottesfurcht hat, ist wie die G
Sonne, die da scheint und wärmt, wenn sie Z
t auch nicht redet. M. Claudius W

Gespenster des Glücks
Roman von Alfred Madern»
(46. Fortsetzung)
Während des Aneinanderreihens der Pünkt-
»en in bestimmter Ordnung verbanden dis Leiden
ulLdchsn mit der Aufmerksamkeit für den zu über-
nagenden Wortlaut unwillkürlich die Gedanken
Ur jene Menschen, für dis sie hier arbeiteten, und
ffie mit leise tastenden Fingerspitzen diese Punkt-
«echen entlang gleiten würden und auf diese wun-
derbare Art alles zu lesen und das Getastete eben-
sogut und flink zu verstehen vermochten wie einGe-
"Ar nnt seinen beiden Augen.
begreiflich, als Lotte
einmal Lust machen mutzte und ihm
»rÄ Eindrücken, von ihrer Stimmung beim
Im Schriftstücken für Blinde sprach. Wie
?, "ües dennoch so wunderbar vorkomme,
ielbst nichts wunderbares mehr darin
brauchte, da ia alles so einfach und
.isch war. mechanische Leistung. Dabei fielen
on rhrer Seite auch die Worte gesund und krank-
Der Professor winkte Nora und Lotts zu sich
yemn und sprach:
„Krank und gesund, das find Worts, die es bei
d-b eigentlich gar nicht gibt. Ihre mitzbräuchliche
Anwendung gehört zu -den Fehlern, dis uns allen
nyaften, ehe wir wirklich fähig sind, die Blinden-
Wehung zu beginnen. Und -bevor Sie alle
^e,e Fehler nicht abgelegt haben, dürfen Sie mir
Minden heran. Es sind das Sprach-
di? Eemütsfehler, wenn .man sh sagen darf, ohne
ü. rvix im gewöhnlichen Leben »ar nicht auskom-
konnten, die uns aber hier um manchen müh-
L?I'_/rr"^?enen Erfolg zu bringen vermöchten.
Lil. - stkh. meine Damen, der Blinde ist
»yAk krank, seiner Blindheit wegen. Und der Ge-
ist deshalb schund, weil er sehen kann,
-ch? -«linde ist also genau so gesund «wie jeder
Mdere gesund« Mensch. In dem Augenblick, wo
w Kn in dem Glauben lassen, datz er ein Kr-üp-
wir ihn für unjsere Aufgabe und
kstel Und dieses Unheil! stellen wir auf
Erw andere Art und Weise an. als wenn wir
^-Blinden bemitleiden".
^Jedesmal gab Wendelsteiner den beiden Mäd-
KI,,, ^lien solchen wertvollen Wink mit nach
AWwo sie sich dann allein oder mit ihren An-
«yortgen »och weiter damit beschäftigtem.
besonders konnte sich nicht M.
M «Een kaffen und fand schon das Mnige,
W Nora bisher k«ist«in dürft«, und zu sehen bs-
Mv^r regsten Teilnahme würdig. Mora mutzte
U* M PuMierschrist ganlz genau erklären. Md
kxr Einsamkeit versuchte sie sich an
Maben. di« Norä W Mr zuMaelassen hatte,

zurechtzufinden. Sie nahm die Dämmerstunden da-
zu her und tastete Nun selbst gleich einer Blinden
über die Schrift und wurde vor Freude ganz auf-
geregt, wenn sie ein Wort ums -anders richtig Kl
lesen imstande war. Bald gelang es ihr fehlerlos,
worauf sie sich auch im Schreiben selbst versuchte,
und darin ebenfalls rasch gute Fortschritt«
machte. Ihre Vervollkommnung hatte sie vor
Nora geheim gehalten und überraschte das Mäd-
chen eines Tages mit einer untadslhaftsn Usber-
tragung einer Novelle in Blindenschrift.
Nora freute sich mit der alten Dame und er-
zählte das nächste Mal dem Professor davon, in-
dem sie ihm gleichzeitig dis Blätter vorlegte.
Wendelsteiner Nickte nur und sagte . wahrend
er die Schrift betrachtete, kein Wort. Dann legte
er die Arbeit aus der Hand, nickte wiederum Md
meinte:
„Da sitzen Tausende und Taufende. Re sich
keine Beschäftigung wissen, aber daraus kämmt
nicht eins unter jedem Tausend, an der Vermeh-
rung der Blindenbibliothek mitzuarbesten. Wie ich
Ihrem Herrn Vater sagte, Fräulein Rademann,
an die Blinden denkt Mair ganz einfach nicht,
Sehen sSis die Blätter da! Noch sine kleine An-
zahl solcher, bis ein ganzer Band daraus wird;
Den lassen wir dann drucken und unzähligen Blin-
den ist damit eine große Freude bereitet".
Nora blickte den Professor groß an.
„Da soll, dann kani Frau Lenzberg —"
„Ja, wenn die Däms selbst noch gut zu lesen-
vermag, dann wüßte ich mir körne schönere Be-
schäftigung für sie. "als auf diese WeU-e an un-
serem Werk mitzuarbeiten".
Frau Lenzberg vernahm den Riat des Professors
mit Stolz und freudiger Bewegtheit, und Nora
wußte, daß sie der einsamen Frau damit ein Ge-
schenk dargereicht hatte. Fühlte sie doch selbst
heute schon, wo sie ihre eigenen Kräfte noch nicht
erproben durfte, daß ihr Löben reicher geworden
war und ihren Fleiß damit zu belohnen begann,
was ihr die Liebe zu ihm bewahren konnte.
Dreiunddreißigstes Kapitel.
Er trug noch die Binde vor den Augen; nicht
damit das Licht sie nicht zu frühzeitig treffe, son-
dern weil die Wunden an den Lidern und in der
unmittelbaren Umgebung der Augen noch nicht
geheilt waren. Das Licht — würde diesen Musen
nicht mehr schaden, ebenso wenig wie es sie je
noch zu erfröun vermochte.
Paul Rohrer wußte dies Mch bereits.
Professor Wendelsteiner pflegte mit solchen
traurigen Eröffnungen nicht länger als Notwen-
dig zurückzuhalten. Er Hatte deshalb schon äste»
Vorwürfe von feiten der Angehörigen Erblinde-
ter zu hören bekommen, war «bar jedesmal Sie-
ger geblieben.
„3u MH? Weshalb zu MH? Wissen Sie
denn Mch, was jetzt unserie Pflicht ist? TtzM Er-
blindeten zur Ueberzsugun-g zu bringen, daß er
nur wenig verloren hat. indem -er körperlich er-
blindete. Geist und Gemüt sind ihm gleich auf-
nahmefähig geblieben. In der kürzesten Feit,
sage ich. mutz der- Blinde zu diesör Einsicht Selan-
«en, damit ex. Mit seinM Lös versöhnt, wWek

ans Löben und an sein eigenes Recht darauf zu
glauben, beginne. Wollten (Sie Ihrem Angehöri-
gen diese größte Wohltat, die wir ihm erweisen
können, denn nicht gönnen, weil Sie mir den Vor-
wurf machen, ich habe den Blinden zu MH vom
seinem Schicksal in Kenntnis gesetzt? Jeden Tag-
den ich länger, als unbedingt erforderlich, zögere,
raube ich dSm Winden von seinem neuem ruhigen
Leben".
Da hatten die anderen schweigen, ihm recht
geben und Gott danken -müssen, daß es überhaupt
die MöÄichkoit gab, den Unglücklichen mit seinem
harten Los auszusöhnen. Selbst tobte er ja
meist noch in dieser Stunde, in der sich seine An-
gehörigen bereits dreinzufinden begannen. Be-
raubt und geschändet zugleich kaim er sich vor, und
eine eigene Ohnmacht wider das unerbittliche Ge-
schick ließ ihn am Leben und an der Zukunft ver-
zweifeln. Nur die wenigsten versanken in ein stum-
mes, regungsloses Nahinbrüten. das aber auch
-alles andere, nur nicht Ergebenheit war.
Paul Rohrer gehörte nicht zu diesen. Seine
Fäuste Hatton sich geballt, seine Finger in die
Richtung gekrallt, aus der ihm die Eröffnung des
Professors zukam. die niederschmetternde, wie er
in s-oinöm Toben sie nannte und empfand.
Doch mar Wendelsteiner furchtlos an ihn her-
üngetreten und hatte ihm di« Hand beruhigend
auf die Achsel gelegt.
„Herr Doktor, ich will lSie durch keinen Trost
reizen, will Sie nicht zu ungerechtem Sohn her-
ausfordern. nichts, gar nichts Liebes will ich Ih-
nen tun. Nur ein Bitte habe ich an Sie, der
Mann stellt sie an den M.anu. der Gebildete an
den Gebildeten. Haben Sie Vertrauen zu mir!"
Wendelsteiner ergriff Rohres Hand, drückte sie fest
so feierlich, als lege er «in heiliges Versprechen
in diesen Händedruck, und wandt« -sich dann Nora
zu. die unfern am Fenster stand und Mrgin dieser
Szene gewesen war. Nicht zum ersten Malo. Das
erstemal, beinahe drei Jahre waren seitdem ver-
strichen. hatte sie sich für ein paar Minuten ab-
wenden müssen, um den Professor ihr« Bewegung
und schimmernden Augen nicht sehen zu lassen.
Heute besaß sie das Mitleid wie am ersten
Tage, doch hatte sie unterdessen gelernt, sich voll-
kämimün zu beherrschen und das Mitleid vor den
Minden in tiefstes Verstehen umzuwandeln.
Ja. Sie hatte es gelernt. Wi«? Diese Frag«
lag auch Heute noch zuweilen in den Blicken, di«
Nora und Lotte tauschten, wenn es ihnen gelun-
gen war. ihre Schüler das erste Mal zum Lächelst
zu bringen. Seit beinahe drei Jahren erfüllten
st« nebeneinander dieselbe Pflicht. Die! Mutlosig-
keit und Verzweiflung hatte sie aus den Händen
des Professors behutsam in Empfang genommen,
und' wieviel Zuversicht. Dankbarkeit und neu« Le-
bensfreude halten sie bis an die TAvS ge-lestet,
neue Menschen einem neuen Löben zugeführt.
Wunderbar verstanden sie sich bei ihrer Tätigkeit
zu ergänzen, da Nora jedesmal einen Erblindeten
pflegt«, wenn Lytto ein Blindgeborenes anver-
traul wckr. Wurden di« beiden Minden dann -ent-
lasse«, so erhielt Lotte einen Erblindeten und
Nora einen Blindgeborenen. Und -io wechselten sie
sh, Jahr für Jahr,

Wendelsteiner vertraute ihnen wie seinen äke
testen Kräften und schätzte sie in demselben MatzH
Was er zu Anfang zu dem einen oder anderen oeK
beiden Mädchen gesagt hatte: „Nun gilt es eine
Höchstleistung, wir bekommen einen sehr schweres
Fall!" bas brauchte er schon längst nicht mehr vor«
auszuschicken, wenn es sich um die Ausnahme ei-r
nes Patienten handelte, von dein der erbitterte
Widerstand gegen Bcruhiguugs- und Versöhnungs-
versuche zu erwarten war. Auch dann gab Wen-
delsteiner der bereitstehenden Lehrerin nur einer»
leisen Wink, und sie verstand, wußte, daß der
Blinde jetzt ihr gehörte und durch sie dem Leben,
nach Möglichkeit seinem bisherigen Beruf zurück-
gegeben werden sollte.
Mit Ehrfurcht und heiligem Stolz, aber auch
mit Freude traten dann Nora oder Lotte jedes-
mal an ihre schwere Aufgabe Heran und fühltest
sich als Priesterinnen als Hüterinnen des heilig-,
sten Lichtes, des Seelenfeuers.
Wendelsteiner winkte auch diesmal nur und
verließ dann das Krankenzimmer.
Leise trat Nora an den Erblindeten heran, der,
wie sie wußte, ebenso alt war. als sie, ihr als
Mann aber weit jünger erschien und nicht nur
ihr allein, sondern vor allem sich selbst, weshalb
seine Verzweiflung auch bisweilen in Raserei aus-
artete. ,
Paul Rohrer war Doktor der Chemie und hakt«
bei der Explosion einer versuchten neuen Verbin-
dung beide Augen verloren Das KrankheitsbiM
stand Nova deutlich vor der Seel«, am«- Wesens-
züge des Erblindeten waren ihr von seinen An-
gehörigen mitgeteilt worden, und nun war er ihr
anvertraut, und wenn auch er ihr vertrauest-
wollte, so war es doppelt -ihre heilige Pflicht, ihm
nicht zu enttäuschen.
„Kommen Sie Herr Doktor!"
Kauft griffen Noras zart« Finger nach der-
kräftigen Hand des jungen Mannes.
Wie von eingm Schauder überrieselt zuckte Roh-
rer zusammen. Die erst« Berührung des neuen?
Lebens. Gellend lachte er auf.
Nora mutzte alle Kraft Mfbieton. um zu ver-
hindern. daß ihre Finger, di« des Erblindeten
Hand umspannt hielten, zu zittern anfinsen. Sb
schrecklich hatte sie noch nie «inen Menschen Ms-
lachen hören. And so schwer es ihr Mch wurde, sp
fragte st« Rohrer doch nach der Ursache seines La-
chens.
„Lach ich nicht schön?" läutete di« Antwort.
Sie besitzen eine kräftige Sti-Mme, j«; aber
wakum lachten Sie, Herr Doktor?" Sie mußte
ibn fräsen, nicht Mr, um die Veranlassung zu
messm entsetzlichen Lächen zu erfahren, sondern
Noch mehr, um den Blinden- dies« Veranlassung
rascher versessen zu machen. Fragte sie nicht dM
nach, so vergrübeltö er sich möglicherweise LaM
und Hotts nicht auf si«.
Und Rohrer nannte ihr Len Grund: Li« eM
Berührung dös neuen Lebens.
Nora nickte. Also so einer war Lör, Deffs
Widerstand war der gsfürchtetsta er HW HoM
Der Mann La würde sie kränken,
o sFortsetzung folgt.?







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