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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 87 - No. 95 (1. November - 29. November)
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Heidelberger Lamilienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M 91. Mittwoch, den 15. November 1876.

hinzugeben. Sie ſang in Gedanken mit dem Fremden

Baleska. all' die Worte voll bedeutſamen Ernſtes, ſie fühlte ſich

Novelle von S. v. d. Horſt. tief erregt auf den freundlich verheißenden Schluß: „Auf
Wiederſehen! Auf Wiederſehen!“

CFortſetzung.) Noch lange, als ſchon der letzte Ton verhallt, ſaß

Da, an einem Sonntagnachmittage, Ende Juli, als
die Sonne zu ſinken begann und die Spaziergänger be-
reits in Schaaren nach Hauſe kamen, ſaß Valeska, allein
wie immer, am Fenſter und nähte oder hielt doch wenig-
ſtens eine Arbeit in den herabgeſunkenen Händen, waͤh⸗
rend ihre Blicke träumeriſch und wie in Gedanken ver-
loren, das Treiben unten auf der belebten Straße
überflogen. Plaudernde Gruppen vor den Hausthüren,
ſpielende, jubelnde Kinder, junge Mädchen im beſten
Sonntagsſtaate, wohl auch hier und da ein Liebespaar
oder eine Familie, welche von dem Ausfluge in die grünen

Felder nach Hauſe kam; die Mutter, das Jüngſte, der

Vater den nächſtfolgenden Sprößling tragend, waͤhrend
zwei oder drei ältere Kinder mit Kornblumen an den
Hüten und großen Sträußen in den Händen nebenher
trabten und ein ermüdeter Hund geſenkten Hauptes den
Beſchluß machte.
Alle dieſe Menſchen bis herab zur alten Bettelfrau,
welche heute mehr kleine Gaben einſammelte, als an den
ſechs Wochentagen zumal — alle freuten ſich des Da-
ſeins und hatten Theil an ſeinen Gütern, nur ſie nicht.
Ihr Mann ſaß trunken im Wirthshaus, ihr Kind lag
begraben in ferner, ferner Erde am Rhein, wo zuletzt
Lieutenaut v. Leisrink's Regiment ſtationirt geweſen —
das Geld, von dem ſie Brod kaufte, wie mochte es er-
worben ſein? — — —
Ihr gehörte von Allem, was das Menſchenherz be-
glückt, nicht ein noch ſo kleines Theilchen, ſie war aus-
geſtoßen vor Millionen Begünſtigten. ö
Keinem da unten mißgönnte Valeska's kummer-
ſchweres Herz ſeine Schätze, Keinem hätte es das eigene
Leid aufbürden wollen, um ſelbſt minder einſam und
verlaſſen dazuſtehen, aber heiße Thränen netzten das
bleiche ideale Geſichtchen und unter dem ſchwarzen Kleide
hob ſich die Bruſt der jungen Frau mit leidenſchaftlichem
Schluchzen. „Warum, ach warum Jenen Alles und mir
— Nichts?ꝰ? ö
Da hörte ſie im Nebenzimmer, von dem ihrigen
nur durch eine dünne Wand getrennt, den neuen Mit-
bewohner einige Griffe auf dem Piano machen und all-
mälig in eine deutlich erkennbare Melodie übergehen.
Erſt etwas unſicher, dann aber ganz feſt und mit außer-
ordentlich gewinnender Stimme ſang der junge Mann,
ſich ſelbſt begleitend, das bekannte: „Es iſt beſtimmt in

Wheden 7——. — — vom Lebſten, was man hat, muß

Wie immer die Muſik, ob auch noch ſo mächtig in
das Gefühlsleben hineingreifend —— — verdoppelter
Stärke die Wehmuth wachrufend, doch beſänftigend zu
wirken pflegt, ſo auch hier. Valeska lehnte den Kopf
in die Falten der Gardine und ſchloß die Augen, um
ſich ganz dem Eindruck dieſer weichen ſeelenvollen Klänge

ſie ſtumm, ganz ſtumm, nicht getröſtet, aber doch auch
viel weniger erbittert, viel ſanfter und ruhiger als zu-
vor, wo ihr alle Welt ſo glücklich geſchienen, nur ſie
ſelbſt verloren in jeder Beziehung.
Der fröhliche junge Mann, deſſen Stimme ſie ſo
oft Schelmencouplet's und Trinklieder hatte trällern
hören, mochte dies ernſte Stück nur um der ſchönen Me-
lodie willen geſungen haben, er kannte ſchwerlich ſchon
die Bedeutung deſſelben; aber anders der Dichter! Die
Bruſt, aus welcher dieſe Klage als Wort hervorquollen,
um das Eigenthum einer ganzen Nation zu werden —
mußte ſchwere Kämpfe in ſich ausgeſtritten haben, ehe
ſo fromme Ergebung ſie beherrſchen konnte!
Valeska hätte ihn können mögen, den Dichter, ihn
fragen: „Iſt's wirklich beſtimmt in Gottes Rath, mußteſt
auch du ſcheiden? Ward auch dir Alles, Alles geraubt?“
Sie fühlte ſich faſt verſucht, das eigene Piano zu
öffnen und ſelbſt einen Theil der mächtigen Erregung
ihres Innern ausſtrömen zu laſſen in regelloſen Phan-
taſieen, nur der Gedanke, daß dem Fremden ein ſolches
Anknüpfen oder Aufmerkſammachen ſonderbar vorkommen
könne, hielt ſie zurück. Da begann dieſer zum zweiten
Male zu ſingen und bemühte ſich angeſtrengt, aber ver-
geblich, die Begleitung, in der er überhaupt nur Mäßi-
ges leiſtete, ſeiner Stimme anzupaſſen. Mit dem erſten
Liede ging es ganz gut von Statten, aber das zweite,
die Melodie von „Freiheit, die ich meine“ — war ihm
offenbar nicht geläufig, denn ſchon hei der dritten Strophe
mißlang ſie allemal.
Valeska, ſelbſt eine Meiſterin auf dem Piano,
lächelte unwillkürlich und empfand jene Ungeduld, die

uns ſo leicht beherrſcht, wenn wir Jemand vor unſern

Augen eine Arbeit beſtändig vom unrechten Ende beginnen
ſehen und doch ſo genau wiſſen, wie es mit wenigen
Griffen richtig anzufangen wäre; ſie ſah mehr als ein-
mal zum Inſtrument hinüber und bewegte die Finger,
als ob ſie ſpiele. Endlich, nachdem drüben der zwanzigſte
Verſuch mißglückt war, hielt ſie es nicht länger aus,
ſondern erhob ſich und begann die ihr durchaus bekannte
Melodie.
Im Nebenzimmer verſtummte, wie auf Commando,
Geſang und Spiel; der Fremde lauſchte offenbar lautlos
dem Unterricht, welcher ihm ſo unerwartet geboten wurde.
Valeska glaubte, daß er wieder anfangen werde zu
ſingen, als er aber beharrlich ſchwieg, that es ihrem gu-
ten Herzen leid, ihn vielleicht in Verlegenheit geſetzt zu
haben, und da er ſie ja nicht ſehen konnte, ſo begann ſie
mit dem zweiten Vers ſelbſt die Worte des Liedes.
Als ſie geendet, blieb einige Minuten Alles ſtill;
dann ertönten plötzlich rauſchende Klänge.
„Wenn ſie ſingt, ſo ſchweig ich, wenn ſie ſingt, ſo
neig' ich, mich ihrem Sang und Schall“, improviſirte ſich,
begleitet von einem mehr begeiſterten als regelrechten
 
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