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Heidelberger Volksblatt (70) — 1935 (Nr. 77-149)

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Nr. 101 - Nr. 110 (2. Mai - 13. Mai)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43254#0341
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Loretto 1- Mai 1Y1S

Die Lorettokapelle, wie sie die Badener im Juni 1915 verliehen.

Souchez, Frühjahr 1915: Kirche.

Finte. Der Angriff bleibt aus. Abermals
schließt sich die Wand des Trommelfeuers,
den Lorettoberg unter einer Wolke versen-
kend ....
Wann . . wann werden sie nun kommen?
*
Um 9 Uhr endlich löst sich die Erstarrung
der Schlacht.
Die nächsten 16 Minuten verstreichen in
einer unheimlichen Geschwindigkeit. Das
französische Artilleriefeuer läßt von den vor-
deren Stellungen ab und wirft sich auf die
rückwärtigen Verbindungen, von Gelände-
strich zu Eeländestrich fortschreitend. Irgend-
wo südlich Carency krachen die Explosionen
schwerer Minensprengungen, aber ihr Ge-
räusch dringt nicht allzuweit. Ueberhaupt
tritt für das Ohr kaum eine Veränderung
ein. Höchstens, daß hier und da einige Ma-
schinengewehre knattern und ein paar Hand-
granaten aufbrüllen. An manchen Stellen
steigen auch Leuchtkugeln auf. Dort ruft die

aus dem lebendigen Leibe gehämmert . . r,
die nicht mehr wissen, wie lange nun schon
dieses Chaos anhält, wieviel Tage und wie-
viel Nächte vergangen sind, seit e§ anfing,
und denen jeder Gedanke an ein bürger-
liches Dasein einen Blick der Verständnis-
losigkeit entlocken würde . . «, diese da wer-
den turmhoch über sich selbst hinauswachsen,
wenn der Starrkrampf der Schlacht endlich
sich in Bewegung auflöst « - . 1
Der Angriff
Zwischen 7 und 8 Uhr am Morgen des
9. Mai ist das Feuer am stärksten. Pünktlich
um 8 Uhr setzt die französische Artillerie mit
einem Schlage aus, um einige Augenblicke
später das Hintergelände hinter den deut-
schen Stellungen mit einem gewaltigen
Hagel zu überschütten.
Der Augenblick des Angriffs scheint ge-
kommen. Die Reserven und Bereitschaften
machen sich fertig, um gegen die vordere
Linie vorzurücken, unbekümmert um das
Sperrfeuer, das vor ihnen wirbelt. Was
vorn noch am Leben, greift zu den Gewehren
und Handgranaten und besetzt die Trichter.
Die deutsche Artillerie schießt Sperrfeuer vor
die französischen Ausgangsstellungen, und
über die totgeglaubten deutschen Stellungen
weht auf einmal ein lebendiger Hauch . . .
Mitten in diese Bewegung schlägt plötzlich
aufs neue das französische Trommelfeuer. Es
war nur eine Finte, ein teuflisch ausgeklü-
gelte und auf Nervenzerrüttung berechnete

dem man stündlich alles zerbrechen sieht, was
Schutz und Halt gewähren soll im Augenblick
der Entscheidung. Jetzt dieses Stück, mor-
gen dieses . . . übermorgen wird jenes an
die Reihe kommen. Und dann stehen wir
nackt da, die Maschinengewehre zerschlagen
in unseren Händen, die Schäfte der zer-
schmetterten Gewehre dem Feind entgegen-
haltend wie Kinderpistolen — Patronen und
Handgranaten verschüttet, die Brotmesser
alls einzige brauchbare Waffe noch in den
vor Entbehrung zitternden Händen. Wie
einem Ritter ergeht es uns, dem man im
Angesichts des Zweikampfes Stück für Stück
seiner Rüstung auszieht ... den Helm erst,
den Harnisch, und dann die Beinschienen...
bis man ihm Schild und Speer zerbricht.
Diese da, die in den Trichtern verstreut,
dem Stumpfsinn ausgeliefert und eigentlich
schon eine sichere Beute des Todes, um-
herliegen . . ., diese da, denen scheinbar der
wütende Hammer des Materials die Seele

Infanterie nach Sperrfeuer. Wenn auch die
deutschen Batterien einsetzen: an vielen Stel-
len sind die französischen Sturmkolonnen
schon über die deutsche Sperrfeuerzone hin-
weg. Ja, sie befinden sich in dichten Mengen
zwischen der ersten und der zweiten deutschen
Linie . ; .
Und die erste Linie? Es verlohnt der
Mühe kaum. Fast ohne Gegenwehr schreiten
die Angreifer zögernd durch diese Leichen-
kammer. Erst weiter rückwärts stoßen sie auf
vereinzelten Widerstand. Automatisch treten
die Reserven an und begegnen den feind-
lichen Sturmwellen. Der Kampf löst sich
auf Einzelaktionen an allen Ecken und
Enden. Es gibt keinen Zusammenhang mehr,
keine einheitliche Befehlsführung. Die Ar-
tillerie schießt, so gut sie sehen kann - . .
Aber auch der Gegner tappt umher ohne
allzu große Entschlußkraft. Er gewährt den
geringen Abwehrkräften Zeit, sich zu ent-
wickeln und sich zur Geltung zu bringen. Wo
eine winzige Gruppe von drei oder vier
Kerls mit Messern und Spaten sich wehrt,
vermutet er eine ganze Festung, die man
belagern muß. Wo eine halbverschüttete
Grabenbesatzung niedergemacht ist, beginnt
er sich erst wieder zu ordnen und zu ent-
wickeln. Er traut dem Frieden nicht, er ist
angekränkelt vom Stellungskrieg, der Sinn
und Verständnis für Entfernungen und
Durchstoßmöglichkeiten beeinträchtigt, der die
beschwingte Phantasie des Angriffsgeistes
lähmt.

Das Kreuz von Souchez vor der Schlacht,
Klischee: Deutsche Vodenfse-Zeitung.

IViv gedenken dev tapferen Selben
Keine Schlacht weckt bei den alten Mit¬
kämpfern unserer badischen Regimenter so
tiefgehende und erschütternde Erinnerungen
als die L o r e t to s ch l a ch t, die im Früh-
jahr 1915 entbrannte. Kein Stückchen Erde
ist aber auch den Badenern an der ganzen
Front so ans Herz gewachsen, als der blut¬
getränkte Boden um Notre Dame de Lorette.
.Nirgends wurde auf beiden Seiten erbitter¬
ter gekämpft, als um diesen Berg, der von
einem besonderen Nimbus umgeben war.
Wer ihn besitzt, wird den Krieg gewinnen
— das war damals der hüben wie drüben
verbreitete Glaube. „Liebe Frau von Lo-
.retto, rette Frankreich und gib uns den
Sieg?" — so beteten in den rückliegenden
Ortschaften inbrünstig die Frauen und Kin-
-der, während ihre Häuschen vom Trommel¬
feuer der Lorettoschlacht erbebten! „Mutter
Maria hilf!" — war im Angesicht des Wall-
sahrtsberges das letzte Stoßgebet so manches
sterbenden Kriegers aus dem Schwarzwald
oder vom Bodensee! Ungeheure Vlutopfer
hat diese erste Frühjahrsschlacht des Welt¬
krieges gefordert.
Werner Veumelburg hat in einem
Eonderband der bei Gerhard Stalling-
Oldenburg verlegten Schriftenreihe des
Reichsarchivs die Lorettoschlacht packend und
anschaulich geschildert. Wir entnehmen die¬
sem Band einige Abschnitte, vor allem die
Schilderung des Hauptkampftages, des
9. Mai 1915. Der nachstehende Bericht dürfte
gerade jetzt wieder aktuell sein, weil sich in
diesen Tagen zum 20. Male das Gedächtnis
an die Lorettoschlacht jährt.
Sorbewitungen beim Gegner
Mit dem 1. Mai nahm das französische
Artilleriefeuer einen Charakter an, der auf
Größeres deutete als die tägliche Beschie¬
ßung der Gräben und des Hintergeländes.
Feindliche Flieger traten in Mengen auf.
llnruhevolle Tage wechselten ab mit lärm¬
erfüllten Nächten und die täglichen Verlust¬
listen erfuhren eine beängstigende Vermeh¬
rung.
Wohin zielte der beabsichtigte Stoß?
Gegen die Lorettohöhe? Gegen das Dreieck
von Ablain, Carency und Souchez? Gegen
Douai etwa? Oder gar gegen den ganzen
Abschnitt zwischen Arras und La Bassee?
Schwer zu erkennen, denn überall begann
das Feuer sich zu verdichten in täglicher,
systematischer Steigerung.
Auffallend die Zurückhaltung der feind¬
lichen Infanterie. Die nächtlichen Patrouil-
' lenvorstöße blieben aus, der Kampf um Gra¬
benstücke, sonst hier ständiger Begleiter der
'Morgen- und Abendstunden, nahm sein
Ende. Der Mensch trat zurück von der Bühne
und überließ das Feld dem Material, in
.aller Ruhe den Augenblick errechnend und
: erroartend, in dem er die Früchte der Mate-
rialwirkung zu ernten haben würde. Vor-
i stöße von deutscher Seite trafen auf gespann¬
teste Abwehrbereitschaft von drüben. Man
! wollte sich offenbar nicht in die Karten
> schauen lasten. Keine Regimentsnummer auf
den Achselklappen eines Gefangenen, kein
^Geständnis eines Verwundeten und kein
Auffinden eines Vataillonsbefehls sollten
verraten, was sich hinter dem rauchenden
/und klirrenden Vorhang des Artilleriefeuers
Vorbereitete.
Die deutschen Flieger hatten Mühe, einen
Einblick in das gegnerische Rückengebiet zu
gewinnen. Niemals war der Luftschutz dort
so wachsam wie in diesen Tagen. Dennoch
»gelang es, Truppentransporte im französi¬
schen Hintergelände festzustellen.
Auch das Wetter verbündete sich mit dem
Angreifer. Aus warmen Nächten stieg in
der nahenden Morgenkühle wallender Nebel,
mit grauen Tüchern die Sicht verhängend,
die Nacht verlängernd bis in den Mittag
hinein und die nervöse Wachsamkeit der Ver¬
teidiger unerträglich anspannend.
Am 6. Mai zählte ein deutsches Armee¬
korps, das selbst in diesem Zeitpunkt noch
auf eine geordnete Stellungsstatistik hielt, in
seinem Abschnitt 14 000 französische Artille-
rieschüste, wobei die Genauigkeit der Rech¬
nung dahingestellt bleiben mag. Am 8. Mai
lautete die gewissenhafte Bilanz 17 000 Gra¬
ten und etwa 2000 schwere Minen. Am
9. Mai wurde der Statistiker durch die Er¬
eignisse seiner interessanten Beschäftigung
überhoben.
Das ZrommMuer...
Die Stellungen yerbrachen und zerrissen
unter dem gewaltigen Feuerorkan, der nun
ohne Unterbrechung über das Land und die
Höhe dahinfuhr. Zerfetzt die Hindernisse,
um die soviel Schweiß und Blut geflossen ...,
zerbröckelt die Unterstände, in denen man
sich so heimisch gefühlt . . ., eingeworfen die
Gräben, deren tiefe Einschnitte der einzige
Trost in dieser brüllenden und blutdürstigen
Gegend gewesen .
Eine Wiederherstellung unmöglich. Wie
BMNpf und trostlos dieser Fatalismus, mit

Str Vatrim im «mops
Die Bilanz der ersten halben Stunde ist
bei der 28. Infanteriedivision nicht allzu
ungünstig. Sämtliche Regimenter haben die
vordere Linie in großen Zügen gehalten«
Leibgrenadierregiment 109 hält nach wie
vor seine Stellungen zwischen Carency und
Ablain. Beide Orte sind in deutscher Hand,
wen auch schwer umkämpft. Grenadier-
Regiment 110 liegt zwischen Ablain und der
Kapelle. Schlecht sieht es auf seinem rech-
ten Flügel aus, wo Jnfanterieregi-
ment 111 anschließt. Hier ist der Geg-
ner an einigen Stellen eingedrungen und
hat seinen Vorteil nach rechts und links ver-
breitern können. Bald erscheinen französi-
sche Angriffsgruppen am Rande der
Schlammulde. Es ist also kein Zweifel mehr,
daß die eigentliche Kapellenstellung sich in
feindlicher Hand befindet, auch der Raum,
auf dem ehemals Notre Dame gestanden -.
Die 3. Kompagnie des Infanterie-Regi-
ments 111 geht spornstreichs gegen den in
die Schlammulde eindringenden Feind vor
und jagt ihn, von Pionieren unterstützt,
wieder zurück bis in die Kapellenstellung.
Aber dort beißt er sich fest. Der frühere
Standort der Kapelle ist wieder in deutscher
Hand.
Die 6. Kompagnie wird in erbittertem
Nahkampf fast aufgerieben. Die 8. Kom-
pagnie ist dadurch abgeschnitten, daß die
f sechste überrannt und vernichtet ist, und
wehrt sich verzweifelt nach zwei Seiten. Der
Nest der Kompagnie vermag sich durchzu-
schlagen und sich mit der 2. zu vereinigen. 2.,
3., 5. und 8. Kompagnie halten jetzt den
Westrande der Schlammulde, nach rechts und
links ohne Anschluß und jeden Augenblick in
Gefahr, in die Mulde hinabgetrieben und
vernichtet zu werden.
Das rechts an Infanterieregiment 111 an-
schließende Füsilier-Regiment 40,
rechter Flügel der Division, hat seine alte
Linie ungefähr halten können. Es ist be-
müht, durch Handgranatenvorstöße die ver-
lorengegangene Verbindung mit dem Infan-
terieregiment 111 wieder herzustellen.
Die 28. Jnf.-Division hat alle ihre Kräfte
eingesetzt. Die Regimenter haben fürchter-
lich gelitten und geblutet; aber es ist doch
gelungen, den ersten Angriff im ganzen ab-
zuschlagen. Freilich befindet sich die Schlacht
erst in ihrem Anfangsstadium und in einer
halben Stunde wird kein Krieg entschieden«
*
Heftiger wird schon allerorten das Jnfan-
teriegefecht.
Die Verluste auf beiden Seiten sind fürch-
terlich. Aber wie sie auf deutscher Seite bis
zum Augenblick des Angriffs sich gehäuft,
so geht der Tod jetzt in verstärktem Maße zu
den Angreifern über. Nicht selten, daß im
Geschoßkegel eines Maschinengewehrs die
Leichenhaufen der dichtgedrängten Sturm-
truppen sich bis zu sechs Reihen überein-
ander türmen. Fast sollte man meinen, der
Boden vermöchte diese blutige Last nicht
mehr zu tragen . . .
Es ist nicht möglich, den Verwundeten zu
helfen. Mit durchbluteten Verbänden, kreide-
weißen Gesichtern und blutleeren Lippen lie-
gen sie eingepfercht in den Unterständen, so-
weit sie nicht mehr fähig sind, sich rückwärts
zu schleppen. Es sind ja mehr Verwundete
jetzt im Gelände als unversehrte Verteidiger.
Sie kauern, liegen und sitzen da, und lau-
schen auf die Geräusche des Kampfes, nicht
wissend, ob schon im nächsten Augenblick
französische Handgranaten vor dem Eingang
krepieren. Die Schmerzen ihrer Glieder sind
ihnen allen ins Gesicht geschrieben, und ein
jeder von ihnen trägt sein Los mit der
Kraft, die ihm von der Natur mitgegeben.
Wenige Aerzte und Sanitäter bemühen sich
um sie mit überanstrengten Händen und tod-
müden Gesichtern. Die Unterstände sind bald
vollgefüllt, und man muß die Aermsten
draußen liegen lassen, wo immer noch das
Eranatfeuer tanzt und wo die Kugeln in
Schwärmen vorüberflitzen. Das ist ein
Stöhnen und ein Jammern zum Erbarmen.
Wieviele aber liegen erst noch draußen,
von niemanden aufgefunden, keine Gesell-
schaft um sich außer den verstummten Toten«
Wieviele sind noch im Zwischenfeld zwischen
den neuen Linien. Wieviele sind jenseits
der französischen Stellung im vormaligen
deutschen Stellungsgelände? Wieviele müs-
 
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