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Galerie Henning; Hofer, Karl [Ill.]
Karl Hofer, Berlin: Mai 1949 — Halle (Saale): Galerie Henning, 1949

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https://doi.org/10.11588/diglit.72854#0071
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schwinden sehen, ist skeptisch geworden und sieht nur noch nach dem Maß
der Formung und Gestaltung. Er hat erkannt, daß ein Bildwerk nicht
wegen, sondern tro§ einer „Richtung" gut sein muß. Diese etwas zugespigte
Formulierung wolle man richtig verstehen. Es ist völlig unwesentlich, ob
geistiger oder formaler Gestaltungswille innerer Vorstellung entstammt oder
sich an den realen Gegebenheiten entzündet. Der abstrakte oder surreali-
stische Künstler wird Dinge schaffen, die derjenige, der seine Gestaltung von
der Erscheinung des Realen ableitet, nicht zum Ausdrude bringen kann, und
umgekehrt ist dem Abstrakten das bildnerische Prinzip der Wandlung ver-
schlossen. Freuen wir uns, daß wir beides haben, und lassen wir uns von
dem das Neue jeweilen begleitenden Hosianna nidit irreführen, so wenig
wie von dem Schimpfen der Ahnungslosen!
Des öfteren ist vom Fortschritt der Kunst gesprochen worden. Die Kunst
aber kennt keinen Fortschritt, wie ihn Wissenschaft und vor allem die
Technik kennen in dem Sinne, daß mit jeder neuen Entdeckung oder Er-
findung Vorangegangenes mehr oder weniger wertlos wird. Wissenschaft
und Technik schreiten in gerader Linie fort, das auf ihrem Weg Zurück-
gelassene hat nur noch Kuriositätswert. Anders die Kunst. Sie geht ihren
Weg im Kreis oder, besser gesagt, in einer Spirale, wobei sie immer wieder
auf Gewesenes trifft, Vergangenes wieder berührt, um es in neuer Form
in den Bereich der Gestaltung wieder aufzunehmen oder auch nur An-
regungen und neue Impulse von ihm zu empfangen. Mithin Rückkehr im
Fortschreiten, wie es dem Wesen des Kreislaufs entspricht. Ähnlich verhält
sich auch die Mode, die ja ebenfalls eine Angelegenheit der Form ist. Aus
der Spiralbewegung ergibt sich, daß Jüngstvergangenes erst wieder ungefähr
nach einem Rundgang berührt werden kann. So bringt die neueste Damen-
mode wieder den Dutt unserer Großmütter. Darum mache man nicht so viel
Lärm um nichts! Denjenigen, denen das böse Wort der Entrüstung so locker
auf der Zunge sigt, sei gesagt, daß die Kunst immer recht, sie aber immer
unrecht haben. Die Kunst ist ein verdammt gesunder Organismus, der Un-
taugliches von selbst ausscheidet.
Nach den oben angedeuteten Gesehen der Kunst steht die heutige Kunst an
einem Ort des Kreises, der diametral entgegengesetzt und am fernsten ist
von jener Kunstübung, die man, es ist noch nicht lange her, Malerei nannte.
Malerei im engsten, wirklichen und buchstäblichen Sinne. Eine hohe Kunst,
deren geringster Ehrgeiz es war, mit den esoterischen Künsten der Musik
und Poesie, wie es heute geschieht, in irgendeinen Wettstreit treten zu
wollen. Sie war eine durchaus männliche Kunst. Ihre Daseinszeit war von
kurzer Dauer. Knappe dreihundert Jahre beschenkte sie Europa — denn
sie war eine ausschließlicli abendländische Sache — mit einer Fülle grandioser
Kunstwerke. Beginn und Ende lassen sich präzise umschreiben. Tizian war
der erste Künstler, der Werke der reinen Malerei schuf, worunter, im Gegen-
sag zur Gestaltung, die Übersetzung einer Erscheinung der Natur in den
Duktus des Pinsels zu verstehen ist (doch im anderen Sinne als bei den

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