DAS WERK
Emil Noldes Gemälde „Das Abendmahl“ aus dem
Jahre 1909 bezeichnet eine entscheidende Wende in
seiner künstlerischen Entwicklung wie in der Geschichte
des religiösen Bildes neuerer Zeit. Bevor wir seine
besondere Bedeutung im historischen Zusammenhang
darzustellen versuchen, wollen wir es genau betrachten
(Abb. 8):
Christus sitzt im eng umschließenden Kreis der elf
getreuen Jünger frontal in der Mitte, vom Beschauer aus
ein wenig nach links gerückt. Die großen Hände, die den
Kelch halten, sind leicht nach rechts geschoben und da-
durch genau im Schnittpunkt der Diagonalen. Das leuch-
tend gelbe, mit grünen Schatten modellierte Gesicht mit
den geschlossenen Augen und dem leidvollen, leicht ge-
öffneten und tiefroten Mund ist umrahmt von dunkel-
roten Haaren. Über dem weißen Untergewand — der
größten Helligkeit im Bild, vor dem der blaue Kelch
steht —■ trägt er ein Obergewand, dessen leuchtendes Rot
durch das komplementäre Grün des Tischtuches noch ge-
steigert wird. Nur die Gewänder der drei Jünger, die vor
dem Tisch sitzen, zeigen noch größere, zusammenhän-
gende Farbflächen: gedämpftes, dunkles Grün mit dun-
kelblauer Schärpe links, nachtdunkles Blau die Rücken-
figur rechts neben dem Krapplackrot des Jüngers am
Bildrand, der seinen Arm auf die Schulter des Nachbarn
legt. Von den übrigen sind nur die Köpfe zu sehen,
ernste bäuerische Männer von starkem Ausdruck. Johan-
nes, das Kinn auf Christi Schulter gestützt, ist am hell-
sten, die anderen, nicht namentlich benennbaren, treten
in gelben, grünen und braunen Tönen in unterschiedli-
chem Grade ins Dunklere zurück. Das Licht scheint vom
Kelch auszustrahlen. Vorn, wo die Jünger auseinander-
gerückt sind, um den Blick auf Christus freizugeben,
schließt die brüderliche Geste des ausgestreckten Arms
und der zusammengelegten Hände den Kreis der sonst
eng zusammengerückten Gestalten. Die Männer, links
fünf, rechts sechs, sehen nicht auf Christus, sondern ein-
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Emil Noldes Gemälde „Das Abendmahl“ aus dem
Jahre 1909 bezeichnet eine entscheidende Wende in
seiner künstlerischen Entwicklung wie in der Geschichte
des religiösen Bildes neuerer Zeit. Bevor wir seine
besondere Bedeutung im historischen Zusammenhang
darzustellen versuchen, wollen wir es genau betrachten
(Abb. 8):
Christus sitzt im eng umschließenden Kreis der elf
getreuen Jünger frontal in der Mitte, vom Beschauer aus
ein wenig nach links gerückt. Die großen Hände, die den
Kelch halten, sind leicht nach rechts geschoben und da-
durch genau im Schnittpunkt der Diagonalen. Das leuch-
tend gelbe, mit grünen Schatten modellierte Gesicht mit
den geschlossenen Augen und dem leidvollen, leicht ge-
öffneten und tiefroten Mund ist umrahmt von dunkel-
roten Haaren. Über dem weißen Untergewand — der
größten Helligkeit im Bild, vor dem der blaue Kelch
steht —■ trägt er ein Obergewand, dessen leuchtendes Rot
durch das komplementäre Grün des Tischtuches noch ge-
steigert wird. Nur die Gewänder der drei Jünger, die vor
dem Tisch sitzen, zeigen noch größere, zusammenhän-
gende Farbflächen: gedämpftes, dunkles Grün mit dun-
kelblauer Schärpe links, nachtdunkles Blau die Rücken-
figur rechts neben dem Krapplackrot des Jüngers am
Bildrand, der seinen Arm auf die Schulter des Nachbarn
legt. Von den übrigen sind nur die Köpfe zu sehen,
ernste bäuerische Männer von starkem Ausdruck. Johan-
nes, das Kinn auf Christi Schulter gestützt, ist am hell-
sten, die anderen, nicht namentlich benennbaren, treten
in gelben, grünen und braunen Tönen in unterschiedli-
chem Grade ins Dunklere zurück. Das Licht scheint vom
Kelch auszustrahlen. Vorn, wo die Jünger auseinander-
gerückt sind, um den Blick auf Christus freizugeben,
schließt die brüderliche Geste des ausgestreckten Arms
und der zusammengelegten Hände den Kreis der sonst
eng zusammengerückten Gestalten. Die Männer, links
fünf, rechts sechs, sehen nicht auf Christus, sondern ein-
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