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Hermann, Hermann Julius; Wickhoff, Franz [Hrsg.]; Schlosser, Julius von [Hrsg.]; Österreichisches Institut für Geschichtsforschung [Hrsg.]
Beschreibendes Verzeichnis der illuminierten Handschriften in Österreich (1. Band): Die illuminierten Handschriften in Tirol — Leipzig: Verlag von W. Hiersemann, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.51543#0277

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Neustift bei Brixen, Bibliothek des Augustiner-Chorherrenstiftes.

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Neustift bei Brixen.
Bibliothek des Augustiner-Chorherrenstiftes.
Nirgends in Tirol wurden während des XV. und XVI. Jahrh. so zahlreiche künstlerisch bedeutende Miniaturhand-
schriften ausgeführt wie in Brixen und Neustift. Die Erzeugnisse der Werkstätten in Brixen und Neustift können als die hervor-
ragendsten Leistungen der Tiroler Miniaturmalerei des XV. und XVI. Jahrh. bezeichnet werden. Die Bibliothek des fürst-
bischöflichen Priesterseminars in Brixen verwahrt noch heute eine Reihe kostbarer Miniaturcodices aus dieser Zeit; dagegen
sind die wertvollsten Handschriften der Neustifter Bibliothek gelegentlich der Klosteraufhebungen nach Innsbruck in die
k. k. Universitätsbibliothek gelangt, so das künstlerisch bedeutendste Werk dieser Schule, das Missale des Neustifter Propstes
Augustinus I. Posch aus dem Jahre 1526 (Innsbruck, Univ.-Bibi. Cod. 100), dessen Miniaturen zu dem Besten gehören, was die
deutsche und österreichische Miniaturmalerei der ersten Hälfte des XVI. Jahrh. geleistet hat. In Neustift selbst verblieben nur
einige Chorbücher mit Miniaturen, von denen wenigstens zwei durch ihren Kunstwert hervorragen.

Graduale per totum annum, lateinisch, Grossfolio, 1442.

m., 5O7X72O, 325 f.\ grosse gotische Minuskel, die Noten im Vierzeilensystem; Vollbild, Randleisten und Initialen, z. T. mit
Innenbildern. Reich gepresster brauner Lederband (XV. Jahrh.), geziert mit dem Doppelkreuz, dem Neustifter Wappen, Köpfchen, Schriftbändern
mit der Aufschrift Maria u. a. m. in Blindpressung; der weisse Lederrücken erneuert. Als Verschluss dienen Lederriemen mit Schnallen in Gestalt
von Tierköpfen.
In Neustift 1442 für den Neustifter Propst Nicolaus III. Scheiber [1439—1449]1) von Friderich Golner geschrieben.

Der künstlerische Schmuck besteht aus einem Voll-
bild, sowie mehreren mit reichen Randleisten und Initialbildern
ausgestatteten Blättern. Das kunsthistorisch bemerkenswerte
Vollbild auf der Versoseite des Schmutzblattes rührt von einem
Miniator her, der der venezianischen oder veronesischen
Schule der 1. Hälfte des XV. Jahrh. angehört; dagegen
erheben die Randleisten und Initialbilder zu den Hauptfesten
den Codex zu einem der wertvollsten Erzeugnisse der Neu-
stifter Schule des XV. Jahrh.
Von hervorragender Bedeutung ist das Vollbild auf
der Versoseite des später eingehefteten Schmutzblattes (Taf.
XVIII). Die Miniatur stellt die Madonna mit dem Kind
dar; sie thront zwischen kerzentragenden Engeln, auf reichem
spätgotischen Throne, in dessen Giebeln die Verkündi-
gung und Gott Vater mit der Taube des heiligen Geistes
zwischen posaunenblasenden Engeln dargestellt ist, während
in den Nischen der Fialen rechts und links Apostelstatuetten
stehen. Der ausserordentlich reich gegliederte Aufbau des

Thrones zeigt den Stil der venezianischen Gotik der ersten
Hälfte des XV. Jahrh. Als Unterbau dienen zwei hohe
Stufen; die Vorderseite der unteren Stufe ist mit Rund-
bogen, die der oberen Stufe mit überhöhten auf Säulchen
ruhenden Rundbogen mit eingefugten Kleeblattbogen (in vene-
zianisch-gotischem Stil) verziert. Darüber erheben sich drei
im Rundbogen geschlossene, durch Säulenbündel geschiedene
absisartige Nischen, deren Rückwand von hohen, schmalen
gotischen Fenstern durchbrochen ist, während rechts und links
von den beiden schmäleren Nischen gotische Fialen aufragen,
die oben mit je vier Heiligenstatuetten in Nischen (je zwei
in zwei Reihen) geschmückt sind. Ein mächtiger venezianisch-
gotischer Eselrückenbogen umspannt die drei gotischen Kreuz-
gewölbe über den drei Nischen, über denen drei Giebel im
Stil der venezianischen Gotik aufragen, deren oberer Rand mit
breiten gotischen Blättern und Kreuzblumen verziert ist. Diese
Dekoration erinnert an die dekorativen Prachtwerke der venezia-
nischen Gotik, wie den Schmuck der Fagade der Markuskirche,

1) In dem Wappenbuch der Neustifter Pröpste (Innsbruck, Universitätsbibliothek Cod. 845) ist Propst Nicolaus III. Scheiber als der
26. Propst angeführt; es heisst von ihm: „Rexit 10 annos; pontificalia per instantiam Friedrici imperatoris et Alberti fratris in concillio Basilensi a
pontificibus Joanne 22, Martino 5 et Eugenio 4 obtinuit sibi et successoribus Novacellae praepositis perpetuo usurpanda; obiit anno 1449.“

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