146
Musik-Manuscripte. XIV.-XIX. Jahrh.
ner, Einsiedelner etc. Handschriften des IX.—X. Jahrhunderts. Die Seiten
42—43 der Handschrift, Teile des Officium in nativitate quatuor evange-
listarum (!) mögen das gesagte illustrieren. Dieselben sind zwar nicht
die reichsten bezüglich längerer Melismen und viertöniger Ligaturen, aber
im übrigen speziell für den Inhalt und die Schrift der Handschrift charak-
teristisch (vgl. Tafeln 21, 22).
Bezüglich der Schrift sei besonders hervorgehoben, daß S nur als
Anfangsbuchstabe (Majuskel) bezw. in mit Majuskeln geschriebenen ab-
gekürzten Worten, wie DS (deus) vorkommt; sonst tritt durchaus nur die
Form £ auf. Auch das E ohne Querstrich ist sehr häufig, desgleichen das
A ohne Balken (vgl. das Facsimile S. 42, Z. 12, 18, S. 43, Z. 21). Auch
sonst ist an alten Formen der Buchstaben kein Mangel, z. B. steht y fast
durchweg auf der Linie, & tritt sehr häufig in der Mitte und am Ende
von Worten auf, e mit Cedille steht für se, t und c sind oft nicht zu unter-
scheiden etc. Die angewandten Abkürzungen sind durchaus die dem
IX. —X. Jahrhundert geläufigen.
Inhaltlich ist die Handschrift dadurch besonders wertvoll, daß sie nicht
nur ein Cantatorium, eine Sammlung der Responsorien und Antiphonen
des Stundenofficiums, sondern zugleich ein Lectionarium ist, eine Zu-
sammenstellung der Lektionen nebst Homilien, Capitula und Orationen für
die Offizien des ganzen Kirchenjahres, also vergleichbar dem 1903 von
den Solesmenser Benediktinern herausgegebenen Liber usualis, nur daß
letzterer auch die Meßoffizien enthält. Aus älterer Zeit scheinen derartige
vollständige Breviere sehr selten zu sein, sodaß nach dem Geständnis P.
Suitbert Bäumers (Geschichte des Breviers, 1895) die historische Entwick-
lung des Offiziums noch keineswegs hinlänglich geklärt ist. Die gründ-
liche Durcharbeitung von Handschriften wie der vorliegenden ist daher
noch von großer Wichtigkeit und geeignet, neue Aufschlüsse zu geben.
Ein Vergleich dieser Handschrift z. B. mit dem Antiphonale monasticum, Cod.
601 der Kapitelbibliothek von Lucca, welches als Bd. IX der Paleographie
musicale der Solesmenser Benediktiner facsimiliert erscheint (ein bloßes
Cantatorium, ohne die Lektionen usw. auch ohne den Text der Hymnen),
erweist sehr erhebliche Differenzen beider. Die Zahl der Offizien ist in
dem aus dem Anfang des XII. Jahrhunderts stammenden Codex von Lucca
erheblich gewachsen, aber viele Responsorien und Antiphonen, die unser
Kodex gibt, sind inzwischen fallen gelassen worden. Teilweise sind das
Antiphonen, welche der Tonarius Reginos von Prüm für den Anfang des
X. Jahrhunderts verbürgt.
Das Alter der Handschrift bestätigt auch der Umstand, daß sie nicht
das Proprium de tempore von dem Proprium de Sanctis scheidet, sondern
die Offizien der Heiligenfeste nach ihren Daten in den Lauf des
Kirchenjahres (Cursus) einschiebt. Leider ist die Handschrift nicht ganz
vollständig; doch trifft der Verlust in der Hauptsache die festarme Zeit
zwischen Pfingsten und dem Advent und dürfte daher nur wenige Lagen
betragen.
Das hohe Alter und die ganze Anlage des Buches macht wahrscheinlich,
daß dasselbe nicht mit den vier Adventsonntagen, sondern mit der Weih-
nachtsvigil begonnen hat, wie das für die ältere Zeit der Brauch war;
Karl W. Hiersemann in Leipzig, Königsstrasse 3. Katalog 330»
Musik-Manuscripte. XIV.-XIX. Jahrh.
ner, Einsiedelner etc. Handschriften des IX.—X. Jahrhunderts. Die Seiten
42—43 der Handschrift, Teile des Officium in nativitate quatuor evange-
listarum (!) mögen das gesagte illustrieren. Dieselben sind zwar nicht
die reichsten bezüglich längerer Melismen und viertöniger Ligaturen, aber
im übrigen speziell für den Inhalt und die Schrift der Handschrift charak-
teristisch (vgl. Tafeln 21, 22).
Bezüglich der Schrift sei besonders hervorgehoben, daß S nur als
Anfangsbuchstabe (Majuskel) bezw. in mit Majuskeln geschriebenen ab-
gekürzten Worten, wie DS (deus) vorkommt; sonst tritt durchaus nur die
Form £ auf. Auch das E ohne Querstrich ist sehr häufig, desgleichen das
A ohne Balken (vgl. das Facsimile S. 42, Z. 12, 18, S. 43, Z. 21). Auch
sonst ist an alten Formen der Buchstaben kein Mangel, z. B. steht y fast
durchweg auf der Linie, & tritt sehr häufig in der Mitte und am Ende
von Worten auf, e mit Cedille steht für se, t und c sind oft nicht zu unter-
scheiden etc. Die angewandten Abkürzungen sind durchaus die dem
IX. —X. Jahrhundert geläufigen.
Inhaltlich ist die Handschrift dadurch besonders wertvoll, daß sie nicht
nur ein Cantatorium, eine Sammlung der Responsorien und Antiphonen
des Stundenofficiums, sondern zugleich ein Lectionarium ist, eine Zu-
sammenstellung der Lektionen nebst Homilien, Capitula und Orationen für
die Offizien des ganzen Kirchenjahres, also vergleichbar dem 1903 von
den Solesmenser Benediktinern herausgegebenen Liber usualis, nur daß
letzterer auch die Meßoffizien enthält. Aus älterer Zeit scheinen derartige
vollständige Breviere sehr selten zu sein, sodaß nach dem Geständnis P.
Suitbert Bäumers (Geschichte des Breviers, 1895) die historische Entwick-
lung des Offiziums noch keineswegs hinlänglich geklärt ist. Die gründ-
liche Durcharbeitung von Handschriften wie der vorliegenden ist daher
noch von großer Wichtigkeit und geeignet, neue Aufschlüsse zu geben.
Ein Vergleich dieser Handschrift z. B. mit dem Antiphonale monasticum, Cod.
601 der Kapitelbibliothek von Lucca, welches als Bd. IX der Paleographie
musicale der Solesmenser Benediktiner facsimiliert erscheint (ein bloßes
Cantatorium, ohne die Lektionen usw. auch ohne den Text der Hymnen),
erweist sehr erhebliche Differenzen beider. Die Zahl der Offizien ist in
dem aus dem Anfang des XII. Jahrhunderts stammenden Codex von Lucca
erheblich gewachsen, aber viele Responsorien und Antiphonen, die unser
Kodex gibt, sind inzwischen fallen gelassen worden. Teilweise sind das
Antiphonen, welche der Tonarius Reginos von Prüm für den Anfang des
X. Jahrhunderts verbürgt.
Das Alter der Handschrift bestätigt auch der Umstand, daß sie nicht
das Proprium de tempore von dem Proprium de Sanctis scheidet, sondern
die Offizien der Heiligenfeste nach ihren Daten in den Lauf des
Kirchenjahres (Cursus) einschiebt. Leider ist die Handschrift nicht ganz
vollständig; doch trifft der Verlust in der Hauptsache die festarme Zeit
zwischen Pfingsten und dem Advent und dürfte daher nur wenige Lagen
betragen.
Das hohe Alter und die ganze Anlage des Buches macht wahrscheinlich,
daß dasselbe nicht mit den vier Adventsonntagen, sondern mit der Weih-
nachtsvigil begonnen hat, wie das für die ältere Zeit der Brauch war;
Karl W. Hiersemann in Leipzig, Königsstrasse 3. Katalog 330»