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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0043
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Die Entstehung der Tronie in Leiden und Haarlem

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sehen: Einige Figuren richten den Blick auf einen
Gegenstand außerhalb des Bildfeldes oder schauen
gedankenverloren ins Leere bzw. mit halbgeschlos-
senen Lidern nach unten, was besonders für die
Greise und Greisinnen gilt. Gleichzeitig finden sich
jedoch für jeden Figurentyp Beispiele für Tronien,
auf denen der oder die Dargestellte den Betrachter
direkt anblickt. Meistens weisen die Gesichter einen
ernsten Gesichtsausdruck auf, die Zurschaustellung
einer starken Gemütsregung bzw. eines Affektes
wird vermieden.13
Ein wesentliches Kennzeichen der Figuren ist ihre
realistische, auf Idealisierungen bzw. Typisierungen
weitgehend verzichtende Darstellungsweise. Lievens
malte keine verallgemeinerten Figurentypen mit sche-
matisierten Gesichtszügen, sondern das aus einem
komplexen Gefüge zum Teil gegenläufiger Eigen-
schaften bestehende und damit einzigartige Aus-
sehen nach dem Leben studierter Individuen. Der
Physiognomie der Dargestellten eignet ein »okkasio-
neller Zug« wie Gottfried Boehm ihn für Bildnisse
als konstitutiv betrachtet, »etwas nicht völlig Ein-
lösbares, das uns daran hindert, das Gesicht einem
Typus oder Schema einzugliedern.«14
Die Dargestellten erscheinen häufig nicht nur auf
einem einzigen Bild, sondern wurden von Lievens
für verschiedene Tronien als Modell herangezogen.15
Vielfach tauchen sie auch in seinen mehrfigurigen
Bildern oder sogar in Werken anderer Künstler auf.
Gerade durch die Wiedererkennbarkeit einer indivi-
duell geprägten Physiognomie in verschiedenen Bild-
kontexten erweist sich das lebende Modell als Aus-
gangspunkt des Künstlers. So diente beispielsweise
derselbe junge Mann als Modell für drei Tronien,
die heute in Dresden (Gemäldegalerie Alte Meister)

[Kat. 286, Taf. 60], Raleigh (North Carolina Muse-
um of Art) [Kat. 287, Taf. 60] und Salzburg (Resi-
denzgalerie) [Kat. 288] aufbewahrt werden. Auf allen
Bildern ist dasselbe Gesicht zu erkennen, zu dessen
charakteristischen Merkmalen die vom Nasenflü-
gel ausgehende, die Wange konturierende Falte,
Schlupflider unter leicht vorgewölbten Brauen, ein
ausgeprägtes Kinn und schmale, längliche Ohrläpp-
chen gehören. Einen alten Mann, der auf einer mo-
nogrammierten und 1631 datierten Tronie in Boston
(Peck Collection) [Kat. 305, Taf. 64] erscheint, ver-
wandte Lievens auch als Modell für eine der Figuren
in seiner Auferweckung des Lazarus (Brighton, Fine
Art Gallery) [Kat. 304] von 1631. Es handelt sich um
den Greis, der ganz rechts im Bild vornübergebeugt
am Grab steht. Während das Gesicht mit den runden,
leicht schielenden Augen auf beiden Bildern dasselbe
ist, weichen die Haltung der Figuren und der jewei-
lige Blickwinkel deutlich voneinander ab. Die Tronie
diente also nicht als direkte Vorstudie für die Figur des
Historienbildes.
Einige der zur hier behandelten Gruppe von Lie-
vens’ Brustbildern gehörende Werke zeigen noch
heute bekannte Personen oder solche, für die der
Versuch unternommen wurde, sie namentlich zu
identifizieren. So ist in dem Brustbild eines jungen
Mannes mit Barett und Halsberge in St. Peter Port
(Sammlung Daan Cevat) [Kat. 292, Taf. 62] der jun-
ge Rembrandt, in demjenigen in Kopenhagen (Sta-
tens Museum for Kunst) [Kat. 289] Lievens selbst zu
erkennen.16 Und auch die als >Rembrandts Mutter<
bekannte alte Frau, die im Werk mehrerer Künstler
in verschiedenen Bildzusammenhängen vorkommt,
diente als Modell für eine Reihe von Lievens’ Tro-
nien, z. B. für die Tronie einer Alten Frau mit buntem

13 Vgl. hierzu unten, Kap. V. 2.2, S. 331-333.
14 Boehm 1985, S. 24. Den Begriff der »Okkasionalität des Por-
träts« prägte Hans-Georg Gadamer (1960). Gadamer 1990,
S. 149, zufolge besagt >Okkasionalität<, »daß die Bedeutung
sich aus der Gelegenheit, in der sie gemeint wird, inhaltlich
fortbestimmt, so daß sie mehr enthält als ohne diese Gele-
genheit. So enthält das Porträt eine Beziehung auf den Dar-
gestellten, in die man es nicht erst rückt, sondern die in der
Darstellung selber ausdrücklich gemeint ist und sie als Por-
trät charakterisiert.« Vgl. Preimesberger / Baader / Suthor
1999, S. 431-439.
15 Zu der Verwendung desselben Mädchens als Vorbild für
eine radierte und eine gemalte Tronie vgl. Kat. Amsterdam
1988/89, Kat. Nr. 32, S. 541
16 Zur Identifizierung Rembrandts vgl. u. a. J. R. Judson in Kat.
Chicago / Minneapolis / Detroit 1969/70, Kat. Nr. 77,

S. 77f.; Schneider / Ekkart 1973, Kat. Nr. 264b, S. 335; Kat.
Braunschweig 1979, Kat. Nr. 19, S. 72; Haar 1984, S. 263;
Sumowski 1983-1994, Bd. 3, Kat. Nr. 1260. Grimm 1991, S.
32, widerspricht der Annahme, bei dem Gemälde in St. Peter
Port handele es sich um eine Darstellung Rembrandts. Das
Kopenhagener Bild kann durch den Vergleich mit Lievens’
gestochenem Bildnis in van Dycks Iconographie [Kat. 125]
und dem gesicherten Selbstbildnis mit Landschaftsausblick
(London, National Gallery, Sumowski 1983-1994, Bd. 3, Kat.
Nr. 1289) eindeutig als Selbstdarstellung identifiziert werden.
Zur Beurteilung des Kopenhagener Bildes als Selbstdarstel-
lung vgl. Hali. 1963, S. 187, unter >Lievens< Nr. 2; Eckardt
1971, S. 24; Schneider / Ekkart 1973, S. 68, Kat. Nr. 246, S.
147f.; Blankert 1983, S. 33, Anm. 10; Schwartz 1987, Kat.
Nr. 82, S. 90; Sumowski 1983-1994, Bd. 3, Kat. Nr. 1258;
Gutbrod 1996, S. 195f.
 
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