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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0042

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Der Bildbefund der 1620er und frühen 30er Jahre

und Ekkart verzeichnet.5 Hinzu gezählt werden
können die Tronie eines Bärtigen alten Mannes mit
Barett und brokatverziertem Mantel6 (Niederlande,
Privatbesitz) [Kat. 302, Taf. 63], das Brustbild eines
Mädchens mit offenen Haaren7 in Privatbesitz, das
Brustbild eines Lächelnden Mädchens mit blonden
Haaren1’ in Leipzig (Museum der bildenden Küns-
te) [Kat. 285, Taf. 60], der Kopf eines bärtigen alten
Mannes^ im Rund (Milwaukee, Sammlung Alfred
Bader) sowie die Tronie eines Jungen Mannes im
Profil nach links10.
Zwei wesentliche Eigenschaften, die das Erschei-
nungsbild dieser Werke prägen, ermöglichen die
Zuordnung zu einer Kerngruppe von Tronien und
gleichzeitig eine vorläufige Abgrenzung gegenüber
einfigurigen Genre- und Historienbildern." Rele-
vant ist zum einen die Reduktion der Figuren auf
em Kopfstück bzw. Brustbild. Zum anderen sind die
Dargestellten weder als bestimmte biblische, histo-
rische, mythologische oder literarische Figuren ge-
kennzeichnet noch tragen sie Attribute oder sind
in eine Tätigkeit involviert, die sie als Musikanten,
fröhliche Trinker oder andere mit allegorischen oder
moralisierenden Konnotationen verbundene Gen-
refiguren erkennbar werden ließen. Sie sind damit als
>ikonographisch offen< bzw. in ihrer Bedeutung als
nicht festgelegt zu charakterisieren. Auch handelt es
sich nicht um Porträts, wie die weiter unten durchge-
führte Analyse belegt.12
Die von Lievens in den Leidener Jahren, also bis
zu seiner Übersiedlung nach England im Jahr 1632
produzierten Tronien lassen sich folgenden Figuren-
typen zuordnen:

1. Greise
- in schlichtem, einfarbigem Gewand (meist in
Braun- oder Grautönen), manchmal zusätzlich
mit Kappe bzw. Barett [Kat. 279, Taf. 59]
- in reicherer Phantasietracht oder in orientalischer
Tracht (mit Turban) [ Kat. 290, Taf. 61]
2. Greisinnen
- in reicher Phantasietracht (z.B. mit bunt gemuster-
tem oder besticktem Kopftuch) [Kat. 284, Taf. 59]
3. (Junge) Männer
- in schlichtem Gewand, oft mit Halsberge und/
oder Schal und/oder Barett [Kat. 286, Taf. 60]
- in reicherer Phantasietracht (z. B. mit Samtbarett
und/oder Schmuck)
4. Junge Frauen
- in reicher Phantasietracht (z. B. mit Gold- und
Juwelenschmuck)
5. Kinder
- Jungen in schlichter oder reicher Phantasietracht,
auch in orientalischer Tracht (mit Turban)
- Mädchen in reicher Phantasietracht (z. B. mit Ju-
welen- oder Perlenschmuck im Haar) [Kat. 285,
Taf. 60]
Die in der Regel lebensgroßen Figuren erscheinen
ausnahmslos vor neutralem Hintergrund, der durch
den häufig gut sichtbaren Pinselduktus und die ef-
fektvolle Verteilung von Licht und Schatten belebt
sein kann. Auffällig viele der Tronien sind im Profil
dargestellt. Die Mehrzahl wendet das Gesicht jedoch
dem Betrachter zu, ohne ihn dabei unbedingt anzu-

5 Schneider / Ekkart 1973, Kat. Nr. 95, 151-153, 156-159,
162, 169-171, 215, 217, 221, 222, 246, 270, 283, S 362, S 368,
S 371, 264b, S 370, S 372. Nur die Zuschreibungen der drei
letzten Bilder werden als nicht gesichert eingestuft. Außer-
dem bezweifelt Ekkart (Kat. Nr. 221, S. 332) die Authentizi-
tät des von Schneider (Kat. Nr. 221, S. 143) zugeschriebenen
Pausbäckigen Jungen mit lockigem Haar (Holz, 27,5 x 20 cm,
bez.: Rembrandt / geretuceer / Liev., Leiden, Stedelijk Muse-
um De Lakenhai, Sumowski 1983-1994, Bd. 3, Kat. Nr. 1274),
der heute als eine frühestens in den späten 1630er Jahren ge-
schaffene, anonyme Kopie nach einem Gemälde von Lievens
betrachtet wird, Veen 2006, S. 182. Für eine Konkordanz der
bei Schneider / Ekkart 1973, und bei Sumowski 1983-1994,
Bd. 3, Bd. 5, Bd. 6, verzeichneten Werke vgl. Gutbrod 1996,
S. 335-337.
6 Vgl. Schneider / Ekkart 1973, Kat. Nr. 164, S. 133f., 330;
Sumowski 1983-1994, Bd. 3, unter Kat. Nr. 1240.
7 Holz, 45 x 38 cm, bez.: £, unbekannter Besitz (Versteigerung

Amsterdam, J. Simon, 25.10.1927, Nr. 27), Schneider / Ekkart
1973, Kat. Nr. 216, S. 142, 332, Foto RKD, Den Haag. Vgl. auch
Sumowski 1983-1994, Bd. 3, unter Kat. Nr. 1275.
8 Das Leipziger Bild wird von Sumowski 1983-1994, Bd. 3,
Kat. Nr. 1275, in die Jahre 1632/34 datiert, ist stilistisch je-
doch der Leidener Zeit zuzurechnen. Ich danke Lloyd de
Witt (Philadelphia), der an einer Dissertation zu Lievens’
Werk arbeitet, für die Bestätigung dieser Einschätzung in
einer schriftlichen Mitteilung vom 10.04.2003. De Witt da-
tiert das Bild um 1631. Vgl. die Datierung ca. 1625/29 in Kat.
Melbourne / Canberra 1997/98, Kat. Nr. 34, S. 216, 219.
9 FIolz, 45 x 43 cm, rund, Milwaukee, Sammlung Alfred Bader,
Foto RKD, Den Haag.
10 Holz, 83,5 x 49 cm, unbekannter Besitz (Versteigerung Wien,
Dorotheum, 2.10.2003), Foto RKD, Den Haag.
11 Zum Verhältnis von Tronien und einfigurigen Historien-
bzw. Genrebildern vgl. unten, Kap. III.2.
12 Vgl. unten, Kap. II.3
 
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