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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0106
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94

Der Bildbefund der 1620er und frühen 30er Jahr«

Generelle Kennzeichen der Porträtform sind
die Einkleidung der repräsentierten Person in eine
nicht der aktuellen Mode entsprechende Tracht
und die Beigabe von Attributen, die auf die jeweils
verkörperte Rolle verweisen. Wie bei Bildnissen in
zeitgenössischer Kleidung kommen auch in der Un-
tergattung des portrait historie Gruppen- und Ein-
zelbildnisse, ganzfigurige Darstellungen sowie Por-
träts in knapperem Ausschnitt vor. Erscheinen zwei
oder mehr Figuren im Bild, sind diese in der Regel
in einen Erzählzusammenhang eingebettet, der sich
aus der wiedergegebenen Szene aus Literatur, My-
thologie, Geschichte etc. ergibt. Da solche Werke an-
deren Anforderungen und Bedingungen unterliegen
als Einzelbildnisse, kommen sie für den Vergleich
mit Tronien nicht unmittelbar in Betracht. Vielmehr
geht es um die Frage, welchen Darstellungsnormen
portraits histories mit nur einer Figur in begrenztem
Bildausschnitt folgten und ob auch für sie der für kon-
ventionelle Porträts geltende Code - mit Ausnahme
von Kleidung und Attributen - verbindlich ist.
Um zu ermitteln, welche Gemälde zur Gruppe
der portrazA histories zu rechnen sind, reicht ein (von
Kostümierung und Attributen abgesehen) mit kon-
ventionellen Porträts übereinstimmendes Erschei-
nungsbild als Bestimmungsmerkmal nicht aus. Denn
portraits histories, deren Gestaltungsweise von den
Darstellungsnormen der konventionellen Porträt-
malerei abweicht, wären bei einer solchen Klassifi-
zierung von vornherein ausgeschlossen, da sie nicht
als Bildnisse erkannt würden, sondern dem Bereich
der Historien- oder im Falle von Hirtendarstellun-
gen der Genremalerei zugeordnet würden. Von dem
Erscheinungsbild einer phantasievoll gekleideten Fi-
gur auf ihre Eigenschaft als Porträt und daraus wie-
derum auf die für Porträts typischen Merkmale zu
schließen, würde einen Zirkelschluss bedeuten. Aus
diesem Grund sind vorerst nur solche Figuren in
Phantasietracht in die Untersuchung einzubeziehen,
bei denen aufgrund der Identifizierung der darge-
stellten Person oder eines anderen Hinweises, etwa
der Altersangabe in Form einer Inschrift, als bewie-
sen gelten kann, dass es sich um Porträts mit Memo-
rialfunktion handelt.

98 Neben der im Literaturverzeichnis aufgeführten Literatur
und den einschlägigen Bestandskatalogen wurden alle iden-
tifizierten Porträts, die für den Untersuchungszeitraum im
Iconographisch Bureau (Den Haag) dokumentiert sind, ge-
sichtet.

Bei der Suche nach entsprechenden Bildnissen
stellte sich heraus, dass für die zwanziger und frühen
dreißiger Jahre nur eine sehr begrenzte Anzahl sol-
cher Werke nachweisbar ist. Dies hat seinen Grund
zum einen darin, dass einfigurige portraits histo-
ries gegenüber anderen Formen des Porträts im 17.
Jahrhundert insgesamt nur einen kleinen Teil hol-
ländischer Bildnisse ausmachen. Zum anderen aber
ergab die Sichtung umfangreichen Bildmaterials,98
dass holländische Porträtmaler im 17. Jahrhundert
offensichtlich erst ab den zwanziger Jahren damit be-
gannen, sich in größerem Umfang mit dem portrait
historie in Form des Einzelbildnisses zu beschäftigen
und auf diesem Gebiet neue Darstellungsformen zu
etablieren. Erst ab Mitte der zwanziger Jahre und
nur bei einer kleinen Zahl von Künstlern finden sich
überhaupt identifizierbare portraits histories. Dazu
gehören vornehmlich Werke Gerard van Honthorsts
und einiger anderer Utrechter Maler, wie z.B. Cor-
nelis van Poelenburchs (um 1594/95-1667).
Ein wenig vergrößert wird die Gruppe dieser
Werke, wenn man Darstellungen nicht näher identi-
fizierbarer Personen hinzuzählt, die - von ihrer Ver-
kleidung abgesehen - dem Erscheinungsbild konven-
tioneller Bildnisse entsprechen.99 Hierbei ergibt sich
allerdings gerade dann, wenn die Grenzen zwischen
der Darstellung individueller und idealisierter Züge
verschwimmen, wie z.B. bei Moreelses junger Frau
als Granida in unbekanntem Besitz [Kat. 358, Taf.
77J, das Problem der eindeutigen Unterscheidung
von einfigurigen Historien- bzw. Genrebildern.
Wesentlich ist, dass die meisten der in den 1620er
Jahren gefragten Porträtspezialisten, darunter Mi-
chiel van Miereveld, Jan van Ravesteyn, Cornelis van
der Voort, Thomas de Keyser und Nicolaes Eliasz.,
nach gegenwärtigem Kenntnisstand keine Einzel-
bildnisse in Phantasietracht schufen.
In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ließen
sich Auftraggeber gelegentlich als Halbfigur in Ge-
stalt eines Heiligen, etwa Maria Magdalenas, der
heiligen Agnes oder des heiligen Sebastian, porträtie-
ren. Diese Möglichkeit der Identifikation mit einem
Heiligen trat jedoch - wie Wishnevsky annimmt im
Zuge der Ausbreitung des Calvinismus in den Nörd-

99 Vgl. z.B. Jonge 1938, Kat. Nr. 282, S. 122, Abb. 181, Kat.
Nr. 334, S. 128, Abb. 192; Kat. San Francisco / Baltimore
/ London 1997/98, Kat. Nr. 61, Fig. 2, S. 319; Ekkart / Jud-
son 1999, Kat. Nr. 492, PI. 368, Kat. Nr. 494, PI. 366.
 
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