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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0211
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Tronien und einfigurige Genre- und Historienbilder

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Malern, die sich wie z.B. Backer und Flinck zum
Zeitpunkt der Schöpfung ihrer Schäfer und Schäfe-
rinnen bereits mit Tronien auseinandergesetzt hatten,
weisen die Halbfiguren in pastoraler Kostümierung
starke Ähnlichkeit mit ihren Tronien auf. Backers
Schäferin mit Hirtenstab und Brief (San Francisco,
California Palace of the Legion of Honor) [Kat. 19,
Taf. 4] z.B. ist wie sein Brustbild einer jungen Frau
in München (Alte Pinakothek) [Kat. 14, Taf. 3] im
Profil nach links dargestellt, mit flottem Pinselduk-
tus ausgeführt, zeigt einen vergleichbaren Ausschnitt
bis kurz unterhalb der Brust der Figur und trägt wie
die Tronie ein hochgeschlossenes weißes Hemd unter
dem tief dekolletierten Kleid sowie ein um die Schul-
tern gelegtes Tuch. Bildausschnitt, Komposition und
Kostümierung der Figuren sowie die malerische Vor-
tragsweise der beiden Bilder sind also unmittelbar
verwandt.
Ein Beispiel für einen Fall, in dem eine Tronie sogar
als direktes Vorbild für die Gestaltung einer Hirtin in
Halbfigur genutzt wurde, bietet Flincks Schäferin in
New York (Metropolitan Museum of Art) [Kat. 138,
Taf. 29]. Unverkennbar griff der Maler motivisch und
kompositorisch auf Rembrandts Brustbild einer jun-
gen Frau mit Schleier in Amsterdam (Rijksmuseum)
[Kat. 419, Taf. XVII, 88] zurück, kennzeichnete sei-
ne Figur aber durch die Beigabe von Hirtenstab und
Blumenkranz als Schäferin.72 Wie Rembrandts Tronie
eignet auch Flincks Hirtin ein ausgesprochen por-
träthafter Charakter.73 * Im Gegensatz zu der Mehrheit
der in Utrecht gemalten genrehaften Hirtinnen wird
jegliche erotische Komponente, die durch ein aufrei-
zendes Lächeln oder freizügige Bekleidung erzeugt
werden konnte, vermieden: die Figur ist vollständig
bekleidet und schaut mit ernstem Gesicht zum Be-
trachter.
Nicht nur ihr porträthaftes Aussehen lässt die
halbfigurigen Hirtendarstellungen von Troniemalern
wie Tronien erscheinen, auch ihre malerische Ge-
staltung trägt hierzu bei. So steht beispielsweise die
virtuose, extrem offene Vortragsweise von Flincks
1640 datierter Schäferin im Profil nach rechts™ (un-

bekannter Besitz) [Kat. 144, Taf. 30] den Tronien, die
Flinck Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre
schuf [Kat. 143, Taf. 30, Kat. 149, Abb. 65, S. 310],
hinsichtlich ihrer Skizzenhaftigkeit in nichts nach.
Bei Halbfiguren wie Backers und Flincks Hir-
tinnen ist die kompositorische, motivische und sti-
listische Nähe zu Tronien so groß, dass eine Ab-
grenzung gegenüber Letzteren nicht gerechtfertigt
erscheint. Zwar knüpfen die Künstler bei der Schöp-
fung ihrer Schäferinnen an die in den zwanziger
Jahren in Utrecht geschaffenen Werke gleichen Su-
jets und damit an eine bereits im 16. Jahrhundert
wurzelnde Tradition an.75 Gleichzeitig sind die Bil-
der jedoch von den in den dreißiger Jahren in den
Nördlichen Niederlanden weit verbreiteten Tronien
weiblicher Figuren beeinflusst. Während also in den
zwanziger Jahren eine grundsätzliche Unterschei-
dung halbfiguriger Hirtendarstellungen von Tronien
noch möglich ist, verwischen die Grenzen im Laufe
der weiteren Entwicklung. Aus diesem Grund kön-
nen pastorale Halbfigurenbilder von Malern, die sich
mit Tronien beschäftigten, als ebensolche betrachtet
werden - sofern sie deren formale und stilistische
Merkmale teilen und es sich nachweislich nicht um
Porträts handelt.
Allerdings gibt es auch hier Ausnahmefälle, näm-
lich dann, wenn eine troniehafte Hirtendarstellung
in reduziertem Ausschnitt die Gesichtszüge eines
Künstlers zeigt, wie dies in Jacob Backers Selbst-
bildnis als Hirte mit Kranz und Flöte (Den Haag,
Mauritshuis) [Kat. 17, Taf. XI, 3] der Fall ist.76 Zwar
könnte Backer die eigene Physiognomie als Modell
für eine interessante Tronie in Schäfertracht genutzt
haben, ohne dass eine Porträtintention inbegriffen
wäre. Dies ist allerdings insofern unwahrscheinlich,
als die (Selbst-)Darstellung eines Künstlers als Hir-
te im 17. Jahrhundert aus kunsttheoretischer Sicht
eine Stellungnahme in Bezug auf die Doktrin des
ut pictura poesis implizierte: Da Hirte und Dichter
in der zeitgenössischen pastoralen Literatur gleich-
gesetzt wurden, beinhaltet die Selbstinszenierung
eines Künstlers in der Verkleidung eines Hirten

72 Vgl. Kat. New York 1995/96b, Kat. Nr. 22, S. 91; Kat. New
York 2007, Bd. 1, Kat. Nr. 46, S. 203-207.
73 Die Züge von Flincks junger Frau scheinen zwar Saskias
Physiognomie nachempfunden, geben deren Aussehen aber
nicht getreu genug wieder, als dass es sich um ein Porträt von
Rembrandts Frau handeln könnte. Zu Rembrandts Tronie
vgl. oben, Kap. III.1.2, S. 122.

74 Zur Zuschreibung des Bildes an Flinck vgl. Sumowski 1983—
1994, Bd. 6, Kat. Nr. 2279a.
75 Vgl. z.B. Moltke 1965, S. 15; Kettering 1983, S. 47; Kat.
Utrecht / Frankfurt / Luxemburg 1993/94, Kat. Nr. 23A,
S. 158.
76 Die Identifizierung Backers als Modell des Bildes bei Bauch
1926, S. 37; Kat. Amsterdam / Groningen 1983, Kat. Nr. 1,
S. 92; Kat. Den Haag 2004a, Kat. Nr. 2, S. 29.
 
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