Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0210

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
190

Verbreitung und Formen der Tronie

2.5 Die Verschmelzung verschiedener Formen
des Einfigurenbildes am Beispiel der
Hirtendarstellung
Die Verschmelzung bzw. das Ineinandergreifen der un-
terschiedlichen, in der holländischen Malerei des 17.
Jahrhunderts nebeneinander existierenden Formen des
reduzierten Einfigurenbildes lässt sich besonders deut-
lich anhand pastoraler Darstellungen veranschaulichen.
Die Produktion einzelner genrehafter Halbfiguren
lebensgroßer Hirten und Hirtinnen nahm ihren Anfang
in Utrecht: Das erste erhaltene Gemälde dieser Art, auf
dem eine Junge Schäferin^ [Kat. 355] mit Strohhut und
Hirtenstab als Brustbild zu sehen ist, malte Paulus Mo-
reelse im Jahr 1617.61 62 In den zwanziger Jahren begannen
neben Moreelse auch andere namhafte Utrechter Meis-
ter wie Abraham Bloemaert, Hendrick ter Brugghen,
Dirck van Baburen, Gerard van Honthorst und Jan
van Bijlert mit der Produktion einfiguriger Darstellun-
gen von Schäfern und Schäferinnen in Halbfigur.63 Die
Forschung geht davon aus, dass die Figuren einerseits
auf italienische Vorbilder aus dem 16. und frühen 17.
Jahrhundert zurückgehen - angefangen bei Halbfiguren
Giorgiones und seiner Nachfolger über Kurtisanendar-
stellungen von Malern wie Tizian und Palma Vecchio bis
hin zu reduzierten Einfigurenbildern Caravaggios; ande-
rerseits wird vermutet, dass auch die nordische Tradition
des Halbfigurenbildes sowie mehrfiguriger Komposi-
tionen, die motivisch vergleichbare Figuren enthalten
(z.B. Darstellungen der Verkündigung an die Hirten
oder der Anbetung der Hirten), wichtige Anstöße gab.64
Gelegentlich sind die Schäfer und Schäferinnen
der Utrechter Maler als bestimmte Protagonisten
aus der Hirtendichtung oder die weiblichen Figuren
61 Domela Nieuwenhuis 2001, Bd. 2, Kat. Nr. SAH 160; Kat.
San Francisco / Baltimore / London 1997/98, Kat. Nr. 64,
Fig. 1,S. 325.
62 Brink 1993/94, S. 11; Domela Nieuwenhuis 2001, Bd. 1, S.
147f., Kat. Nr. SAH 160; Kettering 1983, S. 36, kannte das
Bild nicht und nennt als erste in den Nördlichen Niederlan-
den entstandene pastorale Halbfigur Hendrick ter Brugghens
1621 gemalten Blockflöte spielenden Knaben (Kassel, Gemäl-
degalerie Alte Meister) [Kat. 74, Taf. 14].
63 Kettering 1983, S. 33-37, 45-47.
64 Vgl. Kettering 1983, S. lf., 37-41,48f., 53-55; Brink 1993/94,
S. 12; Kat. Utrecht / Frankfurt / Luxemburg 1993/94, Kat.
Nr. 43, S. 228; Kat. San Francisco / Baltimore / London
1997/98, Kat. Nr. 64, S. 325, Kat. Nr. 65, S. 328.
65 Vgl. Kettering 1983, S. 58-60, sowie Fig. 31, 37, 44, 45.
66 Vgl. Kettering 1983, S. 35-37, 41-44, 49-58, 60f.; Dekiert
2003, S. 209-214.
67 Kettering 1983, S. 64. Vgl. auch oben, Kap. II.2.5, S. 95-97.

als Personifikationen der Göttin Flora zu identifi-
zieren.6’’ Ansonsten handelt es sich um Genrebilder,
die besonders häufig erotische Konnotationen bein-
halten.66 Von Porträts in pastoraler Verkleidung, die
gegen Ende der zwanziger Jahre vor allem im Umfeld
des Hofes in Mode kamen,67 lassen sich die Figuren
aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes unter-
scheiden, das meist nicht den Darstellungsnormen und
-konventionell der Porträtmalerei entspricht. Wie bei
der Abgrenzung von Tronien gegenüber Porträts sind
hier ebenfalls Haltung, Gestik, Mimik und Blickrich-
tung wichtige Indikatoren für die richtige Beurteilung
der Werke. Darüber hinaus spielt auch die Darstellung
des Gesichts eine wesentliche Rolle: Moreelses Schö-
ne Schäferin in Amsterdam (Rijksmuseum) [Kat. 357,
Taf. 77] beispielsweise ist so stark idealisiert, dass von
den individuellen Zügen einer Auftraggeberin keine
Rede sein kann.68
Freilich gibt es, wie oben bereits erwähnt, Zweifels-
fälle, in denen nicht mit Sicherheit zu entscheiden ist,
ob es sich bei einem Bild um ein einfiguriges Genre-
bzw. Historienbild oder aber um emportrait historie in
Schäfertracht handelt [Kat. 358, Taf. 77].69 Verwechs-
lungen sind schon deshalb nicht völlig auszuschließen,
weil die pastoralen Bildnisse der Utrechter Maler in
enger Auseinandersetzung mit ihren genrehaften Hir-
tendarstellungen in Halbfigur entstanden/0
In den dreißiger Jahren wurden genrehafte Hirten
und Hirtinnen in Halbfigur nicht mehr vornehmlich
in Utrecht, sondern auch in anderen Städten der
Nördlichen Niederlande gemalt. Sie kommen im
GEuvre von Meistern wie Salomon de Bray, Pieter de
Grebber, Jacob Backer, Govaert Flinck, Barent Fa-
britius, Dirck Santvoort und anderen vor. 1 Bei jenen
68 Auch wird dem Betrachter ein so freizügiger Blick ins De-
kollete, wie ihn Moreelses junge Frau bietet, auf den in den
zwanziger und dreißiger Jahren gemalten höfischen Porträts
in Hirtentracht in der Regel nicht gewährt. Allerdings bedeu-
tete Nacktheit auf Bildnissen Adeliger nicht unbedingt einen
Verstoß gegen das decorum, Jongh 1986, Kat. Nr. 78, S. 315.
69 Vgl. oben, Kap. II.2.5, S. 94.
70 Vgl. Kettering 1983, S. 63f.; Sluijter-Seijffert 1985, S. 223f.
71 Vgl. u. a. Kat. Amsterdam / Groningen 1983, Kat. Nr. 26, S.
142, Kat. Nr. 29, S. 148; Kettering 1983, S. 35, 47f.; Sumowski
1983-1994, Bd. 1, Kat. Nr. 36, 44, Bd. 2, Kat. Nr. 655, 656,
665, 673, Bd. 5, Kat. Nr. 1993, 1994, 2080, 2081, Bd. 6, Kat.
Nr. 2279a; Brink 1993/94, S. 12; Kat. Utrecht / Frankfurt
/ Luxemburg 1993/94, Kat. Nr. 17, S. 136-138, Kat. Nr. 22,
S. 153f., Kat. Nr. 23A u. 23B, S. 155-159, Kat. Nr. 52A u.
52B, S. 259-263; Kat. New York 1995/96b, Kat. Nr. 22, S.
91-214.
 
Annotationen