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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0220
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200

Verbreitung und Formen der Tronie

Haarlem
Neben Leiden, Amsterdam und Dordrecht spielte
Haarlem eine besonders wichtige Rolle bei der Ent-
faltung und Verbreitung von Tronien in der ersten
Jahrhunderthälfte. Wie auf anderen Gebieten der
Malerei bewiesen die Haarlemer Maler auch bei der
Tronieproduktion große Innovationskraft, indem sie
sehr eigenständige und vielfältige Formen der Tronie
entwickelten. Dabei nahmen sie auch Impulse von
außen auf und wandelten sie den eigenen künstleri-
schen Intentionen entsprechend ab.
Der erste und zugleich einer der wichtigsten Maler,
die sich in Haarlem mit Tronien auseinandersetzten,
war Frans Hals. Seine Beschäftigung mit dem Bildtyp
konzentriert sich vor allem auf die zwanziger Jahre.
In den dreißiger Jahren malte Hals zwar eine Reihe
einfiguriger Genrebilder, wie z.B. die Malle Babbe^
in Berlin (Gemäldegalerie) [Kat. 220] und mehrere
Fischerkinder [Kat. 216, Taf. 45], jedoch keine Fi-
guren mehr, denen keine Attribute beigegeben sind
oder die einen auf den Kopf der Figur beschränkten
Ausschnitt zeigen. Nach 1640 stellte der Meister die
Produktion genrehafter Figuren vollständig ein und
widmete sich ausschließlich der Porträtmalerei.48 49
Hals’ Tronieproduktion der zwanziger Jahre fand
vor allem bei seinen Schülern eine nennenswerte Nach-
folge.50 Viele der von Hals inspirierten Köpfe lachender,
trinkender oder musizierender Kinder können zwar
nicht mit dem Namen eines bestimmten Künstlers
verbunden werden. Mit Judith Leyster (1609-1660),
die bis 1636 in Haarlem lebte,51 lässt sich jedoch eine
bekannte Schülerin von Hals greifen, zu deren Werk
auch Tronien zählen.52 Als wichtigstes Beispiel kann
das Leyster zugeschriebene Mädchen mit Strohhut in
Zürich (Fondation Rau pour le Tiers-Monde) [Kat.
270, Taf. 57] von ca. 1633/35 gelten, dessen stilistische
48 Zur Deutung des Bildes vgl. Slive 1970/74, Bd. 1, S. 145-152;
ders. in Kat. Washington / London / Haarlem 1989/90,
Kat. Nr. 37, S. 236-241.
49 Vgl. Slive 1970/74, 3 Bde.; Wijsenbeek-Olthuis / Noorde-
graaf 1993, S. 48.
50 Zu den Schülern des Frans Hals vgl. Grimm 1971.
51 Hofrichter 1989, S. 13-16.
52 Auch im CEuvre Jan Miense Molenaers, der vermutlich
ebenfalls bei Frans Hals und bei dessen Bruder Dirck lernte
(Weller 2002/03b, S. 10), kommen zahllose, meist in ausge-
sprochen flotter Manier ausgeführte Halbfiguren vor. Dabei
handelt es sich allerdings um Genrefiguren mit Attributen,
die auf eine bestimmte moralisierende oder allegorische
Bedeutung schließen lassen. Vgl. Kat. Haarlem / Worces¬
ter 1993, Kat. Nr. 30-32, S. 290-301; Bogendorf-Rupp-
rath 2002/03, Fig. 5, S. 34, Fig. 6, S. 33, Fig. 16, S. 38; Kat.

Auffassung stark an Vorbilder von Hals erinnert.53
Zwar könnte der Strohhut des Mädchens als Hinweis
auf eine pastorale Thematik interpretiert werden. Die-
se Deutung ist jedoch nicht zwingend, da die Darge-
stellte Alltagskleidung und keinerlei weitere Attribute
trägt.54 Der von Hals geprägte Tronietyp unterscheidet
sich von den meisten der in Leiden, Amsterdam, Dor-
drecht, Den Haag und Delft entstandenen Werke nicht
allein hinsichtlich des Malstils, sondern auch dadurch,
dass die Tracht der Figuren häufig entweder zeitgenös-
sischer Kleidung entspricht oder zumindest Elemente
der aktuellen Mode beinhaltet - ebenso wie dies auch
bei Figuren der Genremalerei verbreitet war.
Eine völlig andere Art von Tronien schufen die Haar-
lemer Historienmaler Pieter Fransz. de Grebber (1600-
1652/54) und Salomon de Bray (1597-1664). De Grebber
begann Ende der zwanziger Jahre mit der Produktion
von Studienköpfen, übernahm dann mit Beginn der
dreißiger Jahre für das Schaffen Rembrandts und seiner
Schüler typische Tronietypen, ließ jedoch auch andere,
etwa flämische und Haarlemer Anregungen in seine
Werke einfließen. Der Schwerpunkt von de Grebbers
Tronieproduktion lag in den dreißiger Jahren. Datierte
Werke späterer Zeit, die eindeutig als Tronien bestimmt
werden können, sind mir nicht bekannt. Auch de Bray,
dessen Tronien Leidener und Amsterdamer Vorbildern
verpflichtet sind, befasste sich offensichtlich im gleichen
Jahrzehnt am intensivsten mit dem Bildtyp, fertigte jedoch
auch zu Beginn der fünfziger Jahre noch Tronien an.
Ein weiterer Haarlemer Historienmaler, Caesar
van Everdingen (1616/17-1678), sollte nicht uner-
wähnt bleiben, da sein CEuvre einige Brustbilder und
Halbfiguren junger Frauen enthält, die als Tronien
aufgefasst werden können?5 Einschränkend ist aller-
dings zu bemerken, dass es sich hier nur um wenige
Bilder handelt und eine manchmal stark idealisierende
Raleigh / Columbus / Manchester 2002/03, Kat. Nr. 3, S.
69-74, Kat. Nr. 22, Fig. 1, S. 131. Für zwei Ausnahmen, in
denen in Halbfigur dargestellte Einzelfiguren Molenaers kei-
ne Gegenstände in Händen halten, vgl. Bogendorf-Rupp-
rath 2002/03, S. 37f. m. Fig. 6, S. 33 m. Fig. 16, S. 38. Vgl.
auch Weller 2002/03a, S. 3f.
53 Vgl. Hofrichter 1989, Kat. Nr. 34, S. 58f.; Kat. Haarlem /
Worcester 1993, Kat. Nr. 12, S. 194-197. Für weitere Bei-
spiele vgl. Hofrichter 1989, Kat. Nr. 36, S. 59, Abb. 36, Kat.
Nr. 33, S. 58, Abb. 33.
54 Winkel 2001, S. 56f., führt aus, dass Strohhüte zur konven-
tionellen Bekleidung gehörten, die Frauen außerhalb des
Hauses trugen. Vgl. auch Kat. Haarlem / Worcester 1993,
Kat. Nr. 12, S. 197f.
55 Vgl. Huys Janssen 2002, Kat. Nr. 29, PI. 7, Kat. Nr. 55, Pl. 21,
Kat. Nr. 60, Pl. 32.
 
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