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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0323
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Der Einfluss des Bildtyps Tronie auf die Porträtmalerei

295

Bildnisse von Privatpersonen, die von unbekannten
Meistern stammten oder von weniger hoher Qualität
waren, machten selten Teil des Sortiments von Kunst-
händlern aus.154 Gerade Händler, die das untere oder
mittlere Marktsegment bedienten, also Dutzendware
und Bilder mittlerer Preisklasse anboten, verkauften in
der Regel keine Porträts.155 So enthält z.B. das 1648 auf-
genommene Inventar des Amsterdamer Kunsthändlers
Lambert Hermansz. Blaeuw kein einziges Gemälde, das
als Porträt in zeitgenössischer Tracht identifiziert wer-
den kann.156 Die im Inventar für die Werke angegebenen
Preise zeigen deutlich, dass Blaeuw sich auf den Handel
mit preiswerten Bildern spezialisiert hatte.157 Porträts in
zeitgenössischer Kleidung stellten j edoch in diesem Seg-
ment kein attraktives Verkaufsprodukt dar. In Blaeuws
Inventar wird neben unzähligen weiteren anonymen
Werken nur ein Bild als >conterfeytsel< bezeichnet:
»Een conterfeijtsel van een antycq in een swarte lijst f.
3:—.«158 Sollte es sich bei diesem Werk um ein Porträt
in historisierender Tracht handeln und nicht etwa - was
ebenfalls der Fall sein könnte - um die Darstellung ei-
ner antiken Skulptur,159 würde dies bedeuten, dass der
Kunsthändler offensichtlich ebenso mit dem Verkauf

eines Kostümporträts in tronietypischer Aufmachung
rechnete wie mit dem Verkauf von Tronien, von denen

mehrere in seinem Inventar aufgeführt sind.160 In jedem
Fall waren Tronien aufgrund ihrer spezifischen Eigen-
schaften anders als konventionelle Porträts bürgerlicher
Auftraggeber auch dann gut verkäuflich, wenn sie von
unbekannten Meistern geschaffen worden waren.161
Dies lässt ebenso wie der geschilderte Entste-
hungsprozess der Frau mit Buch in Phantasietracht
[Kat. 480, Taf. 101] vermuten, dass die an Tronien
angelehnte phantasievolle Ausstaffierung von Kos-

tümporträts die Chance erhöhte, die Bildnisse im
Bedarfsfall zu veräußern. Da sich Kostümporträts
von porträthaft aufgefassten Tronien äußerlich oft
nur schwer oder gar nicht unterscheiden lassen,
können sie auf dem freien Markt an Kunstliebhaber
oder Sammler, welche die dargestellte Person nicht
kannten, als interessantes >Phantasiebildmsse< bzw.
als >Tronien< verkauft worden sein. Das heißt, dass
die Darstellung eines Auftraggebers in der Art einer
Tronie wahrscheinlich den realen Marktwert eines
Porträts steigerte. Die Aussicht, ein verkäufliches
Bildnis zu erhalten, dürfte manchen Auftraggeber in
der Entscheidung bestärkt haben, sich in Phantasie-
tracht darstellen zu lassen.
Ideelle Wertsteigerung
Die besondere Wertschätzung der spezifischen künstle-
rischen Gestaltungsweise von Tronien,162 die sich in den
dreißiger Jahren als eigenständige Bildaufgabe fest auf
dem holländischen Kunstmarkt etabliert hatten, führte
offensichtlich dazu, dass eine Reihe von Auftraggebern
ihre Porträts in vergleichbarer Weise ausführen ließ. Die
Tatsache, dass den ästhetischen Qualitäten eines Kunst-
werkes nach 1640 ein immer höherer Stellenwert beige-
messen wurde,165 dürfte Auftraggeber von Porträts in ih-
rem Interesse an Bildnissen bestärkt haben, die die zum
Einsatz gebrachten künstlerischen Mittel in besonderer
Weise betonen. In der mit Tronien vergleichbaren Ge-
staltungsweise bestand also zweifellos einer der Gründe
für die Wahl des Kostümporträts in Tronie-Manier. Der
Bildnistyp unterschied sich allerdings nicht allein in vi-
sueller, sondern auch in konzeptioneller Hinsicht von
Bildnissen in zeitgenössischer Tracht. Ausschlaggebend

154 Vgl. Montias 2002b, S. 134, 136.
155 In den Inventaren der folgenden Kunsthändler finden sich
keine Bildnisse oder nur sehr wenige, die jedoch ausnahmslos
den Händler selbst oder seine Angehörigen zeigen: Bredius
1915-1922, Bd. 1, S. 102-110 (Inv. Cornelis Doek, Amster-
dam Mai 1664); ebd., S. 334-343 (Inv. Hendrick Meyeringh,
Haarlem 6.8.1687 (Todesdatum)); Bredius 1915-1922, Bd. 2,
S. 451-453 (Inv. Mathijs Hals, Amsterdam 30.3.1662); ders.,
Bd. 5, S. 1605-1610 (Inv. Maerten Balkeneynde, Rotter-
dam 26.2.1631); ebd., S. 1634—1642 (Inv. Crijn Hendncksz.
Volmarijn, Rotterdam 12.3.1648); GPI 1994-2003, N-2217
(Pieter van Melder, Amsterdam 1.3.1653). Montias 1988, S.
249-253, zufolge handelten Doek, Meyeringh, Balkeneynde
und Volmarijn mit besonders preisgünstigen Bildern, Hals
und van Melder bedienten das mittlere Marktsegment.
156 GPI 1994-2003, N-2176 (Inv. Lambert Hermansz. Blaeuw,
Amsterdam 15.5.1648).
157 Montias 1988, S. 250.

158 GPI 1994-2003, N-2176, Nr. 0071 (Inv. Lambert Hermansz.
Blaeuw, Amsterdam 15.5.1648).
159 Wurde der Begriff >conterfeytsel< hier in seiner üblichsten
Verwendung gebraucht, so meint er ein Bildnis mit Memori-
alfunktion. Vgl. Hirschfelder 2001/02, S. 85f.; sowie oben,
Kap. 1.4. Das Inventar Blaeuws wurde in einer Zeit aufge-
nommen, als Kostümbildnisse in Tronietracht in Amsterdam
in Mode, andere als >antiek< bezeichnete Formen der Verklei-
dung für bürgerliche Porträts aber noch nicht verbreitet wa-
ren. Vgl. oben, Kap. IV.2.2.2.
160 Für die explizit als »tronie« bezeichneten Werke vgl. GPI
1994-2003, N-2176, Nr. 0032, Nr. 0033, Nr. 0035, Nr. 0076,
Nr, 0100, Nr. 0105, Nr. 0120, Nr. 0121, Nr. 0129, Nr. 0134,
Nr. 0133.
161 Vgl. oben, Kap. III.5.1.
162 Vgl. unten, Kap. V.3.
163 Vgl. Wetering 1999/2000, S. 26-28.
 
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