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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0339
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311

Relevant für die Deutung der Tronien ist nicht zu-
letzt das hohe Alter des Dargestellten. Wayne Franits
verdeutlicht anhand der zeitgenössischen holländischen
Literatur und Kunst in überzeugender Weise, welche
positiven Vorstellungen im 17. Jahrhundert mit dem
Alter verbunden waren: Man glaubte, dass alte Men-
schen sich der Vergänglichkeit des Lebens aufgrund der
Gebrechen des Alters und der Erwartung des nahen
Todes besonders bewusst waren, was ihre Hinwen-
dung zu Gott bewirkte.11 Aus diesem Grund, aber auch
wegen ihrer Lebenserfahrung schrieb man alten Men-
schen eine Reihe von Tugenden, wie z.B. Mäßigung,
Bescheidenheit, Demut und Frömmigkeit, zu. Diese
Eigenschaften führten aus zeitgenössischer Sicht dazu,
dass den Alten in besonderem Maße Gottes Gnade zu-
teil wurde. Zwar wurden im 17. Jahrhundert mit dem
Alter auch negative Eigenschaften, so z.B. Laster wie
Geiz, Habgier, Faulheit und Lüsternheit, assoziiert und
in der bildenden Kunst zur Anschauung gebracht.12
Bilder wie Könincks Nachdenkender alter Mann in
Milwaukee [Kat. 261, Taf. 55] und sein Bärtiger Greis
mit Barett in Privatbesitz [Kat. 262, Taf. 55] spiegeln je-
doch die positive Auffassung von der Würde des Alters
und einem diesem angemessenen Verhalten wider, das
sich in der Nachdenklichkeit der Greise und damit in
ihrer spirituellen Lebenshaltung ausdrückt.13
Die isolierte Darstellung eines Greises oder einer
Greisin rief im 17. Jahrhundert unabhängig von der
jeweiligen Kostümierung der Tronie ohne Zweifel

den Gedanken an die Vergänglichkeit wach.14 Indem
Bilder wie z. B. Lievens’ Alte Frau mit buntem Kopf-
tuch (Kingston, Agnes Etherington Art Centre, Queen’s
University) [Kat. 284, Taf. IV, 59] oder Rembrandts
Bärtiger alter Mann mit Kappe (Kingston, Agnes
Etherington Art Centre, Queen’s University) [Kat.
395, Taf. V, 84] den Betrachter an den Alterungs-
prozess des Menschen und damit die Endlichkeit
des irdischen Daseins erinnerten, enthielten sie eine
durchaus moralisierende Botschaft. Darüber hinaus
bringen Tronien von Greisen und Greisinnen mit-
unter das an den Vanitas-Gedanken gebundene Kon-
zept der Frömmigkeit alter Menschen in gleichsam
verdichteter Form zum Ausdruck - nämlich dann,
wenn sie als betende oder bußfertige Figuren dar-
gestellt sind.15 Als Beispiele hierfür können etwa
Rembrandts Betende alte Frau in Salzburg (Resi-
denzgalerie) [Kat. 393, Taf. I, 83], Bloemaerts Betende
alte Frau in unbekanntem Besitz [Kat. 37], Corne-
lis Bisschops Betende alte Frau in der S0R Rusche
Sammlung [Kat. 35, Taf. 6] und der in Rembrandts
Umkreis entstandene Alte Mann mit über der Brust
verschränkten Armen in Boston (Museum of Fine
Arts) [Kat. 476, Taf. 101] angeführt werden.16 Die
genannten Werke zeigen unterschiedliche Figuren-
typen: Die reich gekleideten Frauen Rembrandts
und Bisschops können ihrer Kostümierung nach
mit Darstellungen von Prophetinnen, Sybillen oder
anderen Protagonistinnen der Bibel in Verbindung

11 Vgl. hierzu sowie zum Folgenden Franits 1993, S. 161—
194, bes. S. 164-167; Franits 1993/94, bes. S. 79-81; ders.
in Kat. Braunschweig 1993/94, Kat. Nr. 43, S. 172, Kat.
Nr. 45, S. 176, Kat. Nr. 70, S. 222; Janssen 2005/06, bes. S.
53-55, 58-60. Allgemein zur Stellung alter Menschen im
17. Jahrhundert vgl. Botelho 2005.
12 Vgl. Schama 1987, S. 430-433; Döring 1993/94, S. 21-23;
ders. in Kat. Braunschweig 1993/94, Kat. Nr. 60, S. 203;
Franits 1993/94, S. 81-84; ders. in Kat. Braunschweig
1993/94, Kat. Nr. 44, S. 174, Kat. Nr. 52, S. 189, Kat. Nr.
59, S. 200; Janssen 2005/06, S. 55f., 60-63.
13 Vgl. auch Kat. 456, Sumowski 1983-1994, Bd. 6, Kat. Nr.
2245. Dass mit Darstellungen von Greisen Eigenschaften
wie Weisheit und Erfahrung assoziiert werden konnten, be-
stätigt eine Passage bei Ripa / Pers 1644, S. 20: »Het hoogste
van d’ouderdom is aensienlijckheyd, en voegter by, het eer-
waerdige ouderdom heeft insonderheyd sulck aensien, dat
die meer is als alle wellusten: en dat voornaemlijck door de
wijsheyd en ervaerentheyd, die daer in word gevonden.«
14 Vgl. Bruyn 1988a, S. 72; Döring 1993/94, S. 21; Kat.
Braunschweig 1993/94. Zur Vanitas-Konnotation von
Darstellungen greiser Philosophen, Eremiten und Heiliger
vgl. Foucart 1990, S. 63-66. Interessanterweise tauchen

Tronien von Greisen in Vanitasdarstellungen gelegentlich
als >Bild im Bild< auf. Simon Luttichuys z.B. fügte ge-
malte und radierte Tronien alter Frauen und Männer von
Rembrandt und Lievens in einige seiner Stillleben mit
Vanitaskonnotation ein, vgl. hierzu Straten 1992. Vgl.
außerdem Sumowski 1983-1994, Bd. 4, Kat. Nr. 1907,
Bd. 6, Kat. Nr. 2514. Eine Vanitas-Allegorie Jacob van
Spreeuwens (ehemals London, Galerie Arnot, Sumowski
1983-1994, Bd. 6, Kat. Nr. 2445) zeigt einen Gelehrten im
Interieur sowie neben einer Vielzahl von Gegenständen,
die auf die Vergänglichkeit hindeuten, auch ein am Boden
liegendes Gemälde einer rembrandtesken Greisentronie
mit Goldkette nach dem sog. Water Rembrandts<. Für
weitere Beispiele in Gemälde integrierter Bilder greiser
Tronien vgl. Kat. Amsterdam / Cleveland 1999/2000,
Kat. Nr. 38, S. 188-191; Gottwald 2006.
15 Bei Ripa / Pers 1644, S. 133, heißt es im Zusammenhang
mit der Beschreibung der Personifikation des Gebets
(>Oratione<): »Oud wordse gemaelt, om dat in dees Ouder
meest wordt gebeden, vermits de reyse uyt dese Werreld,
den Ouden aldernaest is.«
16 Für weitere Beispiele vgl. z.B. Sumowski 1983-1994, Bd.
4, Kat. Nr. 1676, Bd. 5, Kat. Nr. 2127.
 
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