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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0338

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310

Bedeutung, Funktion und Wertschätzung von Tronien


Abb. 65 Govaert Flinck, Orientale, Liverpool, Walker Art Gal-
lery [Kat. 149]

Hirten und Hirtinnen, Bauern und Bäuerinnen, aber
auch schlicht als >Greis<, >Knabe< oder Ähnliches zu
bezeichnende Typen in nicht genauer spezifizierter
Tracht.5 Dabei schließen einzelne Tronietypen meh-
rere Möglichkeiten einer allgemeinen Rollenbestim-
mung ein. Ein orientalisch kostümierter Greis ohne
weitere Attribute, wie z.B. der Flinck zugeschrie-
bene Orientale in Liverpool (Walker Art Gallery)
[Kat. 149, Abb. 65], könnte z.B. ebenso gut einen

biblischen Patriarchen wie einen Herrscher der Antike
oder einen orientalischen Fürsten der jüngeren Ver-
gangenheit repräsentieren.
Häufig lässt sich die aus Sicht der Zeitgenossen an
einen bestimmten Figurentyp geknüpfte Bedeutung
anhand des Vergleichs mit Figuren erschließen, die
mit Beiwerk ausgestattet bzw. in größere Komposi-
tionen eingebettet sind. So ist z. B. Salomon Könincks
Nachdenkender alter Mann mit Barett in Milwaukee
(Sammlung Alfred Bader) [Kat. 261, Taf. 55] durch
die Gegenüberstellung mit Könincks Nachdenken-
dem Gelehrten am Schreibtisch (unbekannter Besitz)
[Kat. 260, Taf. 55] als >Gelehrter< zu bestimmen: Der
Typus des in Gedanken versunkenen Greises mit
vollem, weißen Bart, Barett, tahhaard-ähnlichem
Samtmantel, rüschenbesetztem Hemd und Gold-
kette ist auf beiden Bildern identisch, und sogar der
an den gestus melancholicus angelehnte Griff an den
Bart stimmt überein.6 Die Tronie ist zwar nicht wie
Könincks Gelehrter am Schreibtisch von Gegen-
ständen umgeben, die auf die gelehrten Studien des
Greises verweisen, doch rechtfertigt die Überein-
stimmung des Figurentyps die Annahme, dass auch
hier ein nachdenkender Gelehrter Bildgegenstand
ist.7 Gleiches gilt für eine Tronie wie Könincks Bär-
tigen Greis mit Barett (Berlin, Privatbesitz) [Kat. 262,
Taf. 55], die einen kleineren Bildausschnitt zeigt.8
Die Identität des Dargestellten wird freilich auf kei-
nem der genannten Gemälde konkretisiert.9 Nicht
einem bestimmten Weisen, etwa einem Philosophen
der Antike oder einem Gelehrten der biblischen Ge-
schichte, gilt offenbar die Darstellungsabsicht des
Künstlers, sondern vielmehr der Veranschaulichung
abstrakter Werte, insbesondere der Weisheit, Ge-
lehrsamkeit und kontemplativen Geisteshaltung des
Greises.10

5 Vgl. oben, Kapitel III.3.2, Tab. 1.
6 Zum Barett als Attribut des Gelehrten vgl. Winkel 2005,
S. 61f. Der tabbaard war ein knöchellanger Mantel, den
im 17. Jahrhundert alte Herren von Rang trugen und mit
dem man Würde und Gelehrsamkeit assoziierte. Vgl.
Jonge 1919, S. 194-204; Thienen 1930, S. 22f.; Win-
kel 1995. Zur Darstellung greiser Gelehrter als Melan-
choliker vgl. Lütke Notarp 1998, S. 217-226. Für eine
weitere, von Köninck geschaffene Darstellung eines Ge-
lehrten im Interieur, der ähnliche Merkmale aufweist, vgl.
den Gelehrten im Interieur (St. Petersburg, Eremitage),
Kat. Dijon 2003/04, Kat. Nr. 7, S. 104f.
7 Vgl. auch Darstellungen greiser Evangelisten, Kirchen¬
väter etc., die häufig ebenfalls sitzend in Verbindung mit

dem gestus melancholicus dargestellt wurden. Beispiele
bei Müller Hofstede 1993/94.
8 Für weitere Tronien Könincks, die dem Figurentyp nach
Darstellungen von Gelehrten und Philosophen entspre¬
chen, vgl. Kat. 263-264, Taf. 56, sowie Sumowski 1983-
1994, Bd. 3, Kat. Nr. 1124, 1125, 1130, Bd. 5, Kat. Nr.
2117.
9 Vgl. V. Manuth in Kat. Braunschweig 1993/94, Kat. Nr.
39, S. 164.
10 Zu den positiven Vorstellungen, die im 17. Jahrhundert
mit der Gelehrtentätigkeit verbunden waren, vgl. Lütke
Notarp 1998, S. 217-225; Wiebel 1993/94; Kat. Kings-
ton 1996/97.
 
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