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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0341
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Inhaltliche Bedeutung und exemplarische Funktion

313

Allerdings gibt es auch signifikante Ausnahmen,
in denen sich die >Tätigkeit< oder der Gemütszu-
stand einer Figur nicht als Zeichen für einen morali-
sierenden oder allegorischen Gehalt des Bildes deu-
ten lässt. Dies gilt vor allem für Ausdrucksstudien
wie z.B. Rembrandts frühe Tronien nach dem eige-
nen Gesicht [Kat. 387, Taf. 81, Kat. 390, Taf. IV, 83].
Aber auch ein Bild wie Frans Hals’ Lachender Junge
in Den Haag (Mauritshuis) [Kat. 203, Taf. VI, 42] be-
inhaltete wahrscheinlich keine Wertung im morali-
sierenden Sinne, sondern verlieh in erster Linie der
im 17. Jahrhundert als typisch betrachteten emotio-
nalen Disposition des Kindesalters Ausdruck.30
Im Gegensatz zu den zuletzt besprochenen Bei-
spielen lassen sehr viele erhaltene Tronien weder
einen speziellen Affekt noch eine - wenn auch ein-
geschränkte - Handlung erkennen. Dies gilt insbe-
sondere für jene Figuren, die wie Porträts aussehen
oder zumindest bildnisähnhche Züge aufweisen. Es
wurde bereits dargelegt, dass die Zeitgenossen reich
gekleidete, porträthaft wirkende Tronien als >Phan-
tasiebildmsse< fiktiver Persönlichkeiten auffassten
und ihnen unter Umständen die Identität bestimmter
biblischer, historischer oder literarischer Figuren zu-
schrieben. Aus diesem Grund ist der Blick auf die im
17. Jahrhundert geführte Diskussion über die Wir-
kung von Bildnissen bedeutender Persönlichkeiten
auf den Betrachter aufschlussreich für die Beantwor-
tung der Frage nach der zeitgenössischen Wahrneh-
mung und Rezeption von Tronien:
In Anlehnung an antike Autoren lag der Wert von
Porträts berühmter Männer für viele Kunsttheoretiker
des 16. und 17. Jahrhunderts gerade darin begründet,
dass die Werke an die Tugenden, Fähigkeiten und großen
Taten der Dargestellten erinnerten und den Betrachter
so zur Nachahmung anregten.31 Franciscus Junius z.B.
spricht Bildnissen wiederholt diese Wirkkraft zu. Über
den antiken Brauch, Statuen großer Männer aufzustel-
len, schreibt er in seinem Traktat De Pictura Veterum:
»Although it appeareth now [...], That statues were
erected upon severall occasions, yet was this alwayes

the chiefest motive, That generous spirits seeing Vertue
so much honoured, should likewise be provoked unto
vertuous actions.«32 An anderer Stelle betont Junius die
Vorbildfunktion der in Bildnissen verewigten Perso-
nen, indem er Symmachus zitiert:
»Because by the Ornaments bestowed upon good men, we are
stirred up to imitate them, and an emulating vertue is led by the
honours conferred upon others. Hence it was, that in the rudest
times of antiquitie, those that excelled in vertue, being expressed by
the hand of Art, were transmitted to the memorie of postentie.«33
Das Postulat des vorbildhaften, auf erzieherische
Wirkung abzielenden Charakters der Bildnisse be-
deutender und verdienstvoller Persönlichkeiten
als exempla virtutis ist als geläufiger, in der Antike
wurzelnder Topos anzusehen, mit dem der zeitge-
nössische Betrachter vertraut war.34 Darüber hinaus
wurde auch Porträts von Personen, denen man ne-
gative Eigenschaften zuschrieb und die in verurtei-
lenswerter Weise gehandelt hatten, eine belehrende
Wirkung zuerkannt: Als abschreckende Beispiele im
Sinne von exempla sceleritatis dienten sie zur War-
nung des Betrachter vor lasterhaftem Verhalten.35
Milan Pele stellt heraus, dass es »in der Renaissance
fast kein Vitenbuch und kein Porträtbuch [gebe], in
dem der Verfasser oder Verleger in der Widmung
oder in der Ansprache an den Leser die lehrreiche
Rolle der Geschichte und der individuellen exempla
bei der Erziehung der Menschheit nicht hervorheben
würde.«36 Dies hatte sich auch im 17. Jahrhundert,
als viele der schon früher erschienenen Biographien
und Porträtbücher erneut aufgelegt wurden, nicht
geändert. Zudem wurde bereits in Kapitel II.2.2 dar-
gelegt, dass den auf holländischen Porträts des 17.
Jahrhunderts dargestellten Personen je nach ihrer
Funktion in Familie, Gesellschaft, Politik oder Re-
ligion bestimmte idealtypische Eigenschaften zuge-
wiesen wurden und ihnen Vorbildfunktion zukam.37
Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Rezep-
tionshaltung gegenüber Bildnissen bedeutender Per-
sönlichkeiten ist davon auszugehen, dass auch Werke,
die als >Phantasiebildnisse< hochstehender Personen

30 Vgl. oben, Kap. III.3.2, S. 216.
31 Zur antiken Auffassung von Bildnissen als positive exem-
pla, vgl. u.a. Marschke 1998, S. 17-21.
32 Junius / Aldrich / Fehl 1991, S. 128. Auch andere nie-
derländische Kunsttheoretiker erwähnen explizit die er-
zieherische Funktion von Bildnissen. Vgl. u.a. Goeree
o. J. [ca. 1680], S. 28; Lairesse 1740, Bd. 2, S. 7f.
33 Junius / Aldrich / Fehl 1991, S. 129.

34 Vgl. Polleross 1988, S. 12-15, 37-41; Haskell 1995, bes.
S. 73f.; Ford 1990, S. 116; Marschke 1998, S. 29-49.
35 Pelc 2002, S. 52.
36 Pelc 2002, S. 52f. Zu dem in Porträtbüchern der Renais-
sance vertretenen Anspruch auf moralische Erziehung
des Menschen vgl. Pelc 2002, S. 51-63.
37 Vgl. auch Larsson 2001, S. 120f., 126.
 
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