Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0354
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
326

Bedeutung, Funktion und Wertschätzung von Tronien

»[...] einige behaupten, daß der schwermütige Zug in meinem
Gesicht nicht meinem freundlichen Wesen entspricht. Ich muss
jedoch [...] darauf hinweisen, daß dies, wie ich gerne [...] zugebe,
vollständig mein eigener Fehler ist, da mich damals ernste Famili-
enangelegenheiten schwer belasteten, und obwohl ich versuchte,
meine Sorgen für mich zu behalten, machte ich sie anscheinend in
meinem Gesichtsausdruck und in den Augen für alle sichtbar, wie
man dies stets tut.«47
Bereits im ersten Satz drückt sich die Vorstellung
aus, dass sich die vorherrschende Gemütsverfassung
einer Person - im Falle Huygens’ seine »alacritas«
(von Schwartz als »freundliches Wesen« übersetzt) -
in ihrem Gesicht abzeichnen müsse. Im zweiten Satz
erklärt Huygens das Gesicht zum Ausdrucksträger
momentaner innerer Befindlichkeit. Aufschlussreich
ist hierbei, dass der Autor in diesem Zusammenhang
auch die Augen explizit nennt. Er rekurriert damit
auf einen auf antiker Tradition beruhenden Topos,48
der den Augen die Funktion von >Fenstern< oder
eines >Spiegels< der Seele zuweist und in der zeitge-
nössischen Kunsttheorie im Zusammenhang mit der
Behandlung des Gesichts als Vermittler von Affek-
ten und Charaktereigenschaften wiederholt bemüht
wird: Van Mander spricht von den Augen als den
»spieghelen des gheests«49, bei Junius heißt es, sie
seien »the soules window«50, und Willem van Goeree
schreibt in seiner zuerst 1670 in Middelburgh er-
schienenen Inleyding tot de Praktyk der algemeene
Schilderkonst, dass die Gefühle und Leidenschaften
des Menschen »uyt het aengezigt en de opslag der
oogen können gezien worden: want dat is het spie-
gelboek van ‘t gemoed.«51
Huygens’ Bewertung von Lievens’ Porträt folgt
offensichtlich einem in der zeitgenössischen Kunst-

theorie gängigen Argumentationsmuster. Bemer-
kenswert ist dabei, dass dem Bildnis psychologische
Aussagekraft zugestanden wird, die über das Maß
des für Porträts gemeinhin Üblichen hinausgeht:
Die durch das Gemälde vermittelte Botschaft an den
Betrachter beschränkt sich nicht auf die bloße Dar-
stellung standesspezifischer Eigenschaften des Por-
trätierten. Vielmehr finden nach Aussage Huygens’
dessen private Sorgen und damit sehr persönliche
Gefühle erkennbaren Ausdruck, und zwar nicht zu-
letzt aufgrund der Darstellungsfähigkeit des Malers.
Den Rahmen für die von Huygens vorgenom-
mene Deutung des Bildes bietet allerdings erst das
durch antike Tradition sanktionierte Regelsystem
der Lehre von den Affekten und der Physiogno-
mik. Darüber hinaus dürfte die Kenntnis der an
der antiken Dichtung orientierten zeitgenössischen
Epigrammatik Huygens’ Ausführungen beeinflusst
haben. Wie Michael Wiemers in seiner wichtigen
Untersuchung zu einem Gedicht von Richard Love-
lace (1618-1656/57) auf Peter Lelys Doppelbild-
nis Charles I. (1600-1649) und seines Sohnes James
(1633-1701) (Sammlung des Herzogs von Northum-
berland, Syon House) [Kat. 266] von 1647 zeigt,
wird in Porträtgedichten des 17. Jahrhunderts mit-
unter der Auffassung Ausdruck verliehen, der Maler
könne die emotionale Verfassung und den Charakter
bzw. Geist der von ihm porträtierten Person kraft
seiner besonderen Begabung im Gemälde sichtbar
machen.52 Häufig wird in Epigrammen auf Porträts
allerdings auch eine gegenteilige Ansicht vertreten,
indem auf den Gegensatz zwischen Körper und
Geist, äußerem Abbild und Innenleben einer Per-
son verwiesen und gleichzeitig das Unvermögen des

47 Zit. u. übers, nach Schwartz 1987, S. 76. Vgl. auch Huygens
/ Heesakkers 1987, S. 88f.; Kat. Braunschweig 1979, S.
34; Kat. Kassel / Amsterdam 2001/02, S. 398. Für den la-
teinischen Originaltext vgl. Huygens / Worp 1891, S. 130;
Schneider / Ekkart 1973, S. 291: »[...] quanquam cogita-
bundo vultu genii mei alacritatem minus commode expres-
sam aliqui causentur, quod, ut fatear, mihi imputandum mo-
neo, qui circa tempestatem illam rei familiari seriae et gravis
momenti implicitus, quas animo condebam curas vultu, ut
fit, oculisque non obscure praeferebam.«
48 Vgl. z.B. Cicero / Gigon 1970, Buch 1, § 46, S. 49; Plinius
/ König et al. 1973-1997, Bd. 11 (1990), Kap. LIV, § 145, S.
98; Quintilian / Rahn 1988, Bd. 2, Buch 8, Kap. 3, § 75, S.
636. Vgl. auch Gauricus / Ci-iastel / Klein 1969, S. 137. Zur
Verwendung der Metapher von den >Augen als Fenster der
Seele< vgl. Wiemers 1987/88, S. 253; Reisser 1997, S. 169f.
49 Mander / Miedema 1973, Bd. 1, S. 167 (fol. 25r), Str. 26. Vgl.
hierzu ebd., Bd. 2, S. 499, Nr. VI 26f.

50 Junius / Aldrich / Fehl 1991, S. 258. Ebd., S. 258f., schreibt
Junius über die Augen: »in them, even when they moove not,
either our cheerefulnesse shineth forth, or a cloud of sadnesse
overshadoweth them. Nature also for the same purpose hath
furnished them with teares, which either in griefe bürst forth,
or melt with joy. But their motion doth more especially ex-
presse our earnest intention, our neglect, pnde, spitefulnesse,
meekenesse, sharpnesse; all which are to be imitated as the
nature of the represented action shall require: sometimes also
they must be staring and piercing, closed and hidden, lan-
guishing and dull, wanton and stirring or loosly swimming
in pleasure, glancing and (to speake so) venereall, asking or
promising something; which to expresse, the eye-lids and
ball of the cheeke doe wonderfully assist.«
51 Goeree o.J. [ca. 1680], S. 75. Vgl. auch Hoogstraten 1678,
S. 110.
52 Wiemers 1987/88.
 
Annotationen