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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0355

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Tronien als Ausdrucksträger

327

Malers beklagt wird, die geistigen Fähigkeiten und
inneren Werte einer Person im Bildnis darzustellen.5?
Mit dem Ziel, den Dargestellten in besonderer Weise
zu loben, suchten die Dichter, dieses von ihnen an-
genommene Defizit der bildenden Kunst durch das
geschriebene Wort auszugleichen. Vor dem Hinter-
grund des im 17. Jahrhundert verbreiteten Gedankens
der Gleichrangigkeit von Malerei und Dichtung, der
sich im zeitgenössischen Diktum des utpicturapoesis
manifestiert,53 54 ist allerdings davon auszugehen, dass
die Maler durchaus Anspruch darauf erhoben, es der
Dichtung gleichtun und Geist, Seele oder Charak-
ter einer Person sichtbar machen zu können.55 Dass
begabten Malern diese Fähigkeit auch von den zeit-
genössischen Rezipienten von Bildnissen zugespro-
chen wurde, verdeutlichen jene Porträtgedichte, die
sich in dieser Hinsicht lobend äußern, wie auch die
zitierte Passage bei Huygens.
Huygens’ Bemerkungen sind in unserem Zusam-
menhang gerade deshalb interessant, weil sie sich auf
ein Porträt beziehen. Der anhand des Beispiels ge-
wonnene Eindruck, dass physiognomische Lehren
im 17. Jahrhundert bei der Betrachtung von Bild-
nissen eine Rolle spielten, wird durch Äußerungen
der Kunsttheoretiker bestätigt.56 So lässt z.B. van
Hoogstraten in sein Kapitel zur Porträtmalerei mit
dem Titel »Van ‘t Konterfeyten; of eens menschen
gelijkenis te verbeelden«57 wesentliche Grundsätze
der Physiognomik einfließen.58 Der Autor gibt der
Malerjugend Anweisungen für die gekonnte Umset-
zung von Bildnissen und zitiert dabei unter anderem
Plutarch, der sage, »dat de Schilders, die na ct leven
konterfeyten, yverich acht geeven op de gelijkenisse
des aengezichts, opslach der oogen, of trekken des
voorhoofts, waer uit men der menschen zeedenaert
verneemt.«59 Van Hoogstraten geht also nicht nur
davon aus, dass em Bildnis Rückschlüsse auf den
Charakter des Dargestellten ermögliche, sondern er-
wartet umgekehrt vom Maler, dass dieser sich darum

bemühe, das Wesen der von ihm porträtierten Per-
sonen richtig zu erfassen.
Darauf, dass der Betrachter des 17. Jahrhunderts
mit der Möglichkeit vertraut war, Bildnisse nach den
Maßgaben der Physiognomik zu beurteilen, lassen
auch die seit dem 16. Jahrhundert verbreiteten phy-
siognomischen Schriften selbst sowie biographische
Porträtbücher schließen.60 Giovanni Battista della
Porta z.B. verwendet in seinem Traktat De Immana,
physiognomia Porträts bekannter Persönlichkeiten
als Grundlage für seine Illustrationen unterschied-
licher Charaktertypen und formt die Vorlagen seinen
Zwecken gemäß um.61 Damit werden Porträtbüsten
unmittelbar Gegenstand physiognomischer Deutung.
Im Zusammenhang mit der Behandlung von Porträt-
büchern, die Bildnisse türkischer Sultane enthalten,
legt Bronwen Wilson dar, dass die abgebildeten Por-
träts den Betrachter zum Vergleich mit den im Text be-
schriebenen Taten und Eigenschaften der Dargestell-
ten einladen und damit zu einer physiognomischen
Lesart auffordern.62 Wilson belegt dies u.a. anhand
von Pietro Bertellis Vite degl’ imperatori de’ turchi con
le loro effigie (Vicenza 1599): Bertelh greift bei seiner
Beschreibung der Gesichtsmerkmale von Mehmed II.,
dessen Porträt den Text illustriert, Stereotypen auf, die
in physiognomischen Schriften ein bestimmtes, nega-
tiv konnotiertes Charakterprofil kennzeichnen.
Ferner beobachtet Milan Pele, dass einige Porträt-
buchautoren des 16. Jahrhunderts die Erfindung von
Bildnissen berühmter Männer, für die ihnen keine au-
thentischen Vorlagen zur Verfügung standen, mit dem
Argument rechtfertigten, sie hätten das Aussehen der
Dargestellten anhand historischer oder literarischer
Beschreibungen des Charakters und Handelns der be-
treffenden Person rekonstruiert.63 Damit wurde nicht
von den äußeren Gestaltmerkmalen auf die >Seele<
eines Menschen geschlossen, sondern ein umgekehr-
tes Verfahren angewandt. Dieser Vorgang steht je-
doch nichtsdestoweniger in Einklang mit den Prinzipien

53 Vgl. Emmens 1956, bes. S. 133-139; Wiemers 1987/88, S.
254f.; Weber 1991, S. 138f.; Czech 2002, S. 140f., dort auch
weitere Literatur.
54 Vgl. Lee 1940.
55 Zum diesbezüglichen Wettstreit zwischen Malerei und Dich-
tung vgl. bereits Emmens 1956, sowie jüngst Häslein 2004.
56 Vinken / Jongh 1963, S. 6, weisen darauf hin, dass trotz der
weiten Verbreitung physiognomischer Lehren im 16. und 17.
Jahrhundert nirgendwo explizit beschrieben werde, auf wel-
che Weise ein Maler seine Porträts mit >Ausdruck< versehen
und der Betrachter diesen deuten könne.
57 Hoogstraten 1678, S. 44-47.

58 Vgl. hierzu auch Wiemers 1987/88, S. 254f.
59 Hoogstraten 1678, S. 46. Für die entsprechende Stelle bei
Plutarch vgl. Czech 2002, S. 131.
60 Clough 1993, S. 195-200, stellt einen Zusammenhang zwi-
schen dem Auftreten von Porträtbüchern in der Renaissance
und der in dieser Zeit zu beobachtenden Verbreitung physio-
gnomischer Theorien durch die Schriften der Humanisten fest.
61 Haskell 1995, S. 75-77.
62 Wilson 2003, S. 43f. Der Vergleich von Text und Bild ist
auch für den zeitgenössischen Umgang mit Epigrammen ein
typisches Verfahren.
63 Pelc 2002, S. 80-85.
 
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