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Der Südosten und die Kulturkreise der Bronzezeit.
griechischen Festland die früh- und mittelmykenische Kultur, teils kretischen,
teils kontinental-europäischen Ursprungs und Charakters.
Über das zeitliche Verhältnis sagt D. Fimmen (Zeit und Dauer der kretisch-my-
kenischen Kultur) : „Neben der frühminoischen und mittelminoischen oder Kamareskultur
geht die Zykladenkultur her. Dann folgt die eigentliche kretisch-mykenische Kultur, in der
ersten Periode in gesonderter Entwicklung: in Kreta Naturalismus und Palaststil, in
Griechenland von vornherein- konventionell gestaltete Ornamentik, in der zweiten Periode
als eine Kultur in der bekannten weitgehenden Stilisierung der Naturmotive. . . . Als
künstlerischer Höhepunkt der ganzen Entwicklung und damit als Mittelpunkt der Kultur,
von dem die Weiterbildung der künstlerischen Elemente abhängig war, ist die speziell-
kretische Epoche des Naturalismus zu betrachten. Daß diese Epoche von so überaus kurzer
Dauer war, entspricht ganz dem in der Kunstgeschichte leider sich immer wiederholenden
Gesetz, das auf eine kurze Blüteperiode jedesmal eine lange dauernde Verfallszeit folgen läßt/*
Ägypten scheint die ersten belebenden Einflüsse auf Kreta geübt zu
haben, weil höhere Kultur dort weiter an das verbindende Meer heranreichte
als im Osten. Steingefäße ägyptischer Herkunft aus der Zeit der ersten
Königsdynastie fanden sich schon in der untersten altminoischen Schichte
von Knossos, die um 3000 v. Chr. zur Ablagerung gelangte. Noch im Laufe
des dritten Jahrtausends lernte man aus derselben Quelle den Gebrauch von
Siegelzylindern und den der Töpferscheibe kennen, die erst kurz vor und nach
dem Beginn unserer Zeitrechnung, also dritthalb Jahrtausende später, in
Mitteleuropa Eingang finden sollte. Bald nach 2000 v. Chr. erzeugte Kreta
aus eigenem, doch aus alteuropäischer Wurzel erwachsenem Kunstgeschmack
jene „Kamaresvasen“, die als beliebte Einfuhrsware auch in Ägypten Auf-
nahme fanden. (Vgl. S. 373, Fig. 1—3.) Ihr Stil verrät ein Hinausstreben
aus den Banden der alten geometrischen Kunstrichtung, aus welcher er gleich-
wohl hervorgegangen ist, doch mit der neuen Richtung zur Arabeske und
zum stilisierten Pflanzenornament. Dann erst, gegen die Mitte des zweiten
Jahrtausends, entriß sich die schöpferische kretische Kunst mit einem
Schlage gänzlich diesen Fesseln und warf sich auf jene blendende realistische
Naturdarstellung, die man in ihren Fresken, Stuckreliefs, Fayencen und
anderen Werken bewundert. Unter den Fresken ist die Darstellung eines
Safran pflückenden Knaben, unter den farbigen Terrakottareliefs das einer
Wildziege mit ihrem Jungen und einer Kuh mit ihrem Kalb hervorzuheben.
Die Fayencetechnik des bunt glasierten Tones stammt aus Ägypten, woher
auch einige der Motive entlehnt sind. Aber die meisten Vorwürfe und vor
allem der Stil dieser eigenartig reizvollen Kunst sind einheimisch kretischen
Ursprungs. Die mittelminoische Naturmalerei glänzt auch in zahlreichen
kleinen Seestücken: Wasserpflanzen, Muscheln, fliegenden Fischen zum Teil
mit der Darstellung des Meeresgrundes (vgl. S. 375, Fig. 1), hier an ost-
asiatische Kunst erinnernd. Derlei findet sich in Fresken, als Fayenceeinlage
auf Wandstuck, auf glasierten Gefäßen usw. Runde, plastische Arbeiten aus
glasiertem Ton lieferte das „Depot der Schlangengöttin“ in Knossos (vgl.
S. 375, Fig. 2): eigentümlich reich und raffiniert in die höfische National-
tracht gekleidete Frauenfiguren mit Schlangen in den Händen oder von
solchen umwunden (S. 377, Fig. 1 und 2); dabei fanden sich auch Votiv-
nachbildungen weiblicher Kleidungsstücke aus Fayence.
Der Südosten und die Kulturkreise der Bronzezeit.
griechischen Festland die früh- und mittelmykenische Kultur, teils kretischen,
teils kontinental-europäischen Ursprungs und Charakters.
Über das zeitliche Verhältnis sagt D. Fimmen (Zeit und Dauer der kretisch-my-
kenischen Kultur) : „Neben der frühminoischen und mittelminoischen oder Kamareskultur
geht die Zykladenkultur her. Dann folgt die eigentliche kretisch-mykenische Kultur, in der
ersten Periode in gesonderter Entwicklung: in Kreta Naturalismus und Palaststil, in
Griechenland von vornherein- konventionell gestaltete Ornamentik, in der zweiten Periode
als eine Kultur in der bekannten weitgehenden Stilisierung der Naturmotive. . . . Als
künstlerischer Höhepunkt der ganzen Entwicklung und damit als Mittelpunkt der Kultur,
von dem die Weiterbildung der künstlerischen Elemente abhängig war, ist die speziell-
kretische Epoche des Naturalismus zu betrachten. Daß diese Epoche von so überaus kurzer
Dauer war, entspricht ganz dem in der Kunstgeschichte leider sich immer wiederholenden
Gesetz, das auf eine kurze Blüteperiode jedesmal eine lange dauernde Verfallszeit folgen läßt/*
Ägypten scheint die ersten belebenden Einflüsse auf Kreta geübt zu
haben, weil höhere Kultur dort weiter an das verbindende Meer heranreichte
als im Osten. Steingefäße ägyptischer Herkunft aus der Zeit der ersten
Königsdynastie fanden sich schon in der untersten altminoischen Schichte
von Knossos, die um 3000 v. Chr. zur Ablagerung gelangte. Noch im Laufe
des dritten Jahrtausends lernte man aus derselben Quelle den Gebrauch von
Siegelzylindern und den der Töpferscheibe kennen, die erst kurz vor und nach
dem Beginn unserer Zeitrechnung, also dritthalb Jahrtausende später, in
Mitteleuropa Eingang finden sollte. Bald nach 2000 v. Chr. erzeugte Kreta
aus eigenem, doch aus alteuropäischer Wurzel erwachsenem Kunstgeschmack
jene „Kamaresvasen“, die als beliebte Einfuhrsware auch in Ägypten Auf-
nahme fanden. (Vgl. S. 373, Fig. 1—3.) Ihr Stil verrät ein Hinausstreben
aus den Banden der alten geometrischen Kunstrichtung, aus welcher er gleich-
wohl hervorgegangen ist, doch mit der neuen Richtung zur Arabeske und
zum stilisierten Pflanzenornament. Dann erst, gegen die Mitte des zweiten
Jahrtausends, entriß sich die schöpferische kretische Kunst mit einem
Schlage gänzlich diesen Fesseln und warf sich auf jene blendende realistische
Naturdarstellung, die man in ihren Fresken, Stuckreliefs, Fayencen und
anderen Werken bewundert. Unter den Fresken ist die Darstellung eines
Safran pflückenden Knaben, unter den farbigen Terrakottareliefs das einer
Wildziege mit ihrem Jungen und einer Kuh mit ihrem Kalb hervorzuheben.
Die Fayencetechnik des bunt glasierten Tones stammt aus Ägypten, woher
auch einige der Motive entlehnt sind. Aber die meisten Vorwürfe und vor
allem der Stil dieser eigenartig reizvollen Kunst sind einheimisch kretischen
Ursprungs. Die mittelminoische Naturmalerei glänzt auch in zahlreichen
kleinen Seestücken: Wasserpflanzen, Muscheln, fliegenden Fischen zum Teil
mit der Darstellung des Meeresgrundes (vgl. S. 375, Fig. 1), hier an ost-
asiatische Kunst erinnernd. Derlei findet sich in Fresken, als Fayenceeinlage
auf Wandstuck, auf glasierten Gefäßen usw. Runde, plastische Arbeiten aus
glasiertem Ton lieferte das „Depot der Schlangengöttin“ in Knossos (vgl.
S. 375, Fig. 2): eigentümlich reich und raffiniert in die höfische National-
tracht gekleidete Frauenfiguren mit Schlangen in den Händen oder von
solchen umwunden (S. 377, Fig. 1 und 2); dabei fanden sich auch Votiv-
nachbildungen weiblicher Kleidungsstücke aus Fayence.