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Alt-Birma
erwartete. Die mächtigen Terrassen und Sockel waren sicherlich
nicht leicht für den Angreifer zu überwinden. Selbst die Steilheit
der Treppen, die obendrein nur eine geringe Breite hatten, bildete
eine Gefahr für jeden Eindringling. Es genügte eine geringe Wucht,
den Anstürmenden über die hohen Stufen in die jähe Tiefe hinab-
zustürzen, und im Fallen wurden andere Angreifer mitgerissen.
Doch, wie gesagt, sind alle diese kriegerischen Möglichkeiten nur
wie versteckt an den Khmer-Bauten enthalten. Die künstlerische
Phantasie ist ihrer meisterlich Herr geworden.
ALT-BIRMA: Es nimmt wahrlich nicht wunder, daß die Lei-
stungen, die aus einer grandiosen Bauleidenschaft entsprangen, auf
Jahrhunderte hinaus in die Weite gewirkt haben. Die Architektur
Birmas wie Siams ist den Gründungen der Khmer-Fürsten tief ver-
pflichtet. Für bestimmte große Tempelanlagen in Birma ist es geradezu
üblich geworden, von einem Khmer-Stil zu sprechen. (Vgl. L. de Beylie
a. a. 0.) Freilich spielen daneben Einflüsse aus anderen Gegenden,
so von Nepal, doch auch von Orissa, unmittelbar eine bedeutende
Rolle. Mit Nepal hat die Architektur Birmas die ausgiebige Ver-
wendung von Ziegeln gemeinsam. Eigenste Erfindung der Birmesen
aber scheint der Keilsteinbogen aus Ziegeln zu sein. An sich war
diese richtige Art der Wölbung mit der Bauweise aus kleinteiligem,
sauber geformtem Ziegelsteinwerk notwendig verknüpft, wie schon
die Wölbungen in babylonisch-assyrischen Palästen, Tempeln und
Städten lehren. Doch wie im Zweistromlande aus dieser Wölbart
noch kein eigentlicher Raumbau resultierte — aus einer bloßen
Technik geht niemals ein Raumstil im künstlerischen Sinne hervor—,
so mußte sich trotz scheinbar fortgeschrittener Konstruktions-
methoden auch Birma den allgemeinen Gesetzen indischer Massen-
und Gliederbauweise fügen und gelangte, gebunden durch die Tra-
ditionen plastischen Denkens, nicht zu raumhafter Befreiung.
Unter den Ruinen der alten birmesischen Hauptstadt Pagan ragt
der Anandatempel (Abb. 32) aus einer Menge gleichartiger und ähn-
licher Anlagen heraus. Relativ gut erhalten, wurde er häufig restau-
riert und ist heute noch ein lebendiger Kultmittelpunkt, eine der
vornehmsten buddhistischen Wallfahrtsstätten Hinterindiens. Zur
Hauptsache wurde er in den Jahren 1085—1107 errichtet, zur selben
Alt-Birma
erwartete. Die mächtigen Terrassen und Sockel waren sicherlich
nicht leicht für den Angreifer zu überwinden. Selbst die Steilheit
der Treppen, die obendrein nur eine geringe Breite hatten, bildete
eine Gefahr für jeden Eindringling. Es genügte eine geringe Wucht,
den Anstürmenden über die hohen Stufen in die jähe Tiefe hinab-
zustürzen, und im Fallen wurden andere Angreifer mitgerissen.
Doch, wie gesagt, sind alle diese kriegerischen Möglichkeiten nur
wie versteckt an den Khmer-Bauten enthalten. Die künstlerische
Phantasie ist ihrer meisterlich Herr geworden.
ALT-BIRMA: Es nimmt wahrlich nicht wunder, daß die Lei-
stungen, die aus einer grandiosen Bauleidenschaft entsprangen, auf
Jahrhunderte hinaus in die Weite gewirkt haben. Die Architektur
Birmas wie Siams ist den Gründungen der Khmer-Fürsten tief ver-
pflichtet. Für bestimmte große Tempelanlagen in Birma ist es geradezu
üblich geworden, von einem Khmer-Stil zu sprechen. (Vgl. L. de Beylie
a. a. 0.) Freilich spielen daneben Einflüsse aus anderen Gegenden,
so von Nepal, doch auch von Orissa, unmittelbar eine bedeutende
Rolle. Mit Nepal hat die Architektur Birmas die ausgiebige Ver-
wendung von Ziegeln gemeinsam. Eigenste Erfindung der Birmesen
aber scheint der Keilsteinbogen aus Ziegeln zu sein. An sich war
diese richtige Art der Wölbung mit der Bauweise aus kleinteiligem,
sauber geformtem Ziegelsteinwerk notwendig verknüpft, wie schon
die Wölbungen in babylonisch-assyrischen Palästen, Tempeln und
Städten lehren. Doch wie im Zweistromlande aus dieser Wölbart
noch kein eigentlicher Raumbau resultierte — aus einer bloßen
Technik geht niemals ein Raumstil im künstlerischen Sinne hervor—,
so mußte sich trotz scheinbar fortgeschrittener Konstruktions-
methoden auch Birma den allgemeinen Gesetzen indischer Massen-
und Gliederbauweise fügen und gelangte, gebunden durch die Tra-
ditionen plastischen Denkens, nicht zu raumhafter Befreiung.
Unter den Ruinen der alten birmesischen Hauptstadt Pagan ragt
der Anandatempel (Abb. 32) aus einer Menge gleichartiger und ähn-
licher Anlagen heraus. Relativ gut erhalten, wurde er häufig restau-
riert und ist heute noch ein lebendiger Kultmittelpunkt, eine der
vornehmsten buddhistischen Wallfahrtsstätten Hinterindiens. Zur
Hauptsache wurde er in den Jahren 1085—1107 errichtet, zur selben