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Hoffmann, Karl [Editor]; Krahmer, Alix [Ill.]
Der Neustädter Altar von Lucas Cranach und seiner Werkstatt — Berlin, [1955]

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.28261#0054
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Wir beginnen ganz oben im Gesprenge mit der Figur, die das Ganze
krönt, ohne Rücksicht darauf, ob auch sie aus der Cranachwerkstatt stammt
oder aus anderen Bereichen hierher gekommen ist; eine eingehende Unter*
suchung über die Plastiken des Altars gibt es noch nicht. Sicherlich ist
sie ein Werk des frühen 16. Jahrhunderts und in ihrem geistigen Gehalt
hierher gehörig. Die heilige Anna erfreute sich gerade damals einer wach*
senden Beliebtheit. Das hing mit der Marienverehrung zusammen, die in
dem Glauben gipfelte, daß Maria sündlos im Leibe ihrer Mutter Anna
empfangen sei. So gewann auch die Mutter für den Glauben Bedeutung.
Im Thema der »Anna Selbdritt« tritt diese Bedeutung besonders klar in
die Erscheinung. Die heilige Anna trägt Tochter und Enkel auf ihren
Armen, ist also gleichsam die Mutter des Heils. Durch die »immaculata
conceptio« der Maria wird der Beginn des Heils um eine Generation
heraufgerückt. Der Heiligenhimmel erweitert sich. — Es gibt noch eine
andere Form der Darstellung, in der die Anna nur ihr eigenes Kind und
die Maria selber das Jesuskind trägt. In dieser Form wird die Filiation
deutlicher, es fehlt eine direkte Beziehung der heiligen Anna zum Jesus*
kinde. Unsere Darstellung zeigt, daß ihr Ansehen gewachsen ist. Sie selber
trägt Maria und den Heiland. Kleine ikonographische Verschiebungen,
die für das Auge des Betrachters kaum in die Erscheinung treten, haben oft
gewichtige Hintergründe. Unsere Darstellung zeigt, daß Maria aus ihrer
Monopolstellung verdrängt wird. Die vielfältigen Wünsche der Gläubigen
aller Berufsgruppen verlangen nach immer stärkerer Differenzierung. So
wird Anna die Schutzpatronin der Bergleute, als die wir sie aus dem Ge*
lübde Luthers kennen. — In unserer Darstellung ist sie zu einer Bürgersfrau
mit regelmäßig geschnittenem Gesicht geworden. Überlegenen Blickes
schaut sie auf die ganze Gemeinde herab, der kleine Mund und das rund*
liehe Kinn wiederholen sich bei den kleinen Gestalten. Maria ist, trotz
des kleinen Formats, nicht kindhaft, sondern jungfräulich gestaltet, sie
blättert in einem heiligen Buch, schaut aber in die Ferne. Das Jesuskind
spielt mit einer Traube. Obwohl die beiden Figürchen einander zugewandt
sind, läßt sich eine seelische Beziehung nicht entdecken. Daß das Jesus*
kind zu Maria gehört, wird nicht mehr empfunden. Das Motiv ist in dieser
Spätzeit zu einem reinen Repräsentationsbilde geworden, das den From*
men um seines Gegenstandes willen anspricht, das erfreuen, aber nicht
erschüttern kann.

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