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Huizinga, Johan
Herbst des Mittelalters: Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. u. 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden — München: Drei-Masken-Verl., 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.49575#0109
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DER RITTERGEDANKE

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des Ritterlichen und des Religiösen ineinander! Noch einen Schritt
weiter, und wir sind bei dem Schlüsselbein von Livius, das, feierlich,
als gälte es eine Reliquie, von Papst Leo X. in Empfang genommen
wurdex).
Die spätmittelalterliche Heldenverehrung hat ihre literarische Form
in der Biographie des vollkommenen Ritters. Zuweilen sind es schon
legendäre Figuren geworden wie Gilles de Trazegnies. Die wich-
tigsten jedoch sind die von Zeitgenossen, wie Boucicaut, Jean de Bueil,
Jacques de Lalaing.
Jean le Meingre, gewöhnlich der Marechal Boucicaut genannt, hatte
seinem Land in schweren Bedrängnissen gedient. Er war mit Johann
ohne Furcht 1396 bei Nicopolis gewesen, wo das französische Ritter-
heer, das leichtsinnig ausgezogen war, um den Türken wieder aus
Europa zu vertreiben, durch Sultan Bajasid vernichtet wurde. Bei
Azincourt 1415 wurde er von neuem gefangen genommen und starb
sechs Jahre später in Gefangenschaft. Ein Bewunderer hat noch bei
seinen Lebzeiten 1409 seine Taten niedergeschrieben auf Grund sehr
guter Auskunft und Dokumente* 2), jedoch nicht wie ein Stück Zeit-
geschichte, sondern wie das Bild des idealen Ritters. Die Realität dieses
vielbewegten Lebens verschwindet hinter dem schönen Schein des
Ritterbildes. Die fürchterliche Katastrophe von Nicopolis hat im Livre
des faicts nur eine matte Farbe. Boucicaut wird als der Typus des
schlichten, frommen und zugleich höfischen und literarisch gebildeten
Ritters hingestellt. Die Verachtung des Reichtums, die für den wahren
Ritter kennzeichnend sein mußte, spricht aus den Worten von Bouci-
cauts Vater, der sein Erbgut weder vergrößern noch verkleinern
wollte, indem er sagte: sind meine Kinder rechtschaffen und tapfer,
so werden sie genug haben; und sind sie nichts wert, wäre es schade,
ihnen soviel zu-Jiinterlassen3). Boucicauts Frömmigkeit ist von einer
streng puritanischen Art. Früh steht er auf, und bringt wohl drei Stun-
den im Gebet zu. Wie eilig und beschäftigt er auch ist, so hört er doch
jeden Tag kniend zwei Messen an. Freitags trägt er schwarz, an Sonn-
D Burckhardt, Kultur der Ren., 110 p. 246.
2) Le livre des faicts du marechal Boucicaut, ed. Petitot, Coll, de memoires,
I. Serie, T. VI, VII.
3) Le livre des faicts, VI, p. 379.
 
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