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Huizinga, Johan
Herbst des Mittelalters: Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. u. 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden — München: Drei-Masken-Verl., 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.49575#0319
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„REALISMUS“ UND DIE GREN7EN DES BILDLICHEN DENKENS 293
Standes als etwas Selbständigem liegt etwas echt Mittelalterliches,
und die Ausführung dieser Pflichtenlehre hat jenes Abstrakte und
Allgemeine, das nirgends in die positive Sphäre des so behandelten
Berufs selbst hineinleitet.
In diesem allseitigen Zurückführen auf das Allgemeine äußert sich
die Eigenschaft, die unter dem Namen Typismus von Lamprecht als
die ganz besonders charakteristische für den mittelalterlichen Geist
hingestellt wurde. Sie ist jedoch vielmehr eine Folge jenes subordi-
nierenden Bedürfnisses des Geistes, welches aus dem eingewurzelten
Idealismus herauswächst. Es handelt sich hier nicht so sehr um ein
Unvermögen, das Eigene der Dinge zu sehen, als vielmehr um den
bewußten Willen, überall auf den Sinn der Dinge in ihrer Beziehung
zum Höchsten, ihrer sittlichen Idealität, ihrer allgemeinen Bedeutung
hinzuweisen. Man sucht in allem gerade das Unpersönliche, seine
Wertung als Vorbild, als Normalfall. Der Mangel an individueller
Auffassung ist bis zu einem gewissen Grade absichtlich, eher ein
Ausfluß der alles beherrschenden universalistischen Denkgewohn-
heit als ein Charakteristikum eines niedrigen geistigen Entwicklungs-
grades.
Die Tätigkeit des mittelalterlichen Geistes bestand im höchsten
Grade in dem Zerlegen der ganzen Welt und des ganzen Lebens in
selbständige Ideen und in dem Einordnen dieser Ideen in große und
zahlreiche Lehnsverbände oder Gedankenhierarchien. Daher die Fähig-
keit des mittelalterlichen Geistes, jede Qualität aus dem Komplex eines
einzelnen Falls in ihrer wesentlichen Selbsttätigkeit abzusondern. Als
der Bischof Fulco von Toulouse einmal verdächtigt wird, weil er
einer Albigensischen Frau ein Almosen gibt, antwortet er: „Ich gebe
nicht der Ketzerin, sondern der Armen.“ Und die französische Königin
Margareta von Schottland, die den schlafenden Dichter Alain Chartier
auf denMundküßt, entschuldigt sich damit: „Je n’ay pas baise l’homme
mais la precieuse bouche de laquelle sont yssuz et sortis tant de bons
mots et vertueuses paroles“1). Ein Sprichwort sagte: „Haereticare
potero, sed haereticus non ero“2). Entspricht dies alles nicht, auf das

1) Alain Chartier, Oeuvres, p. xi.
2) Gerson, Opera, I, p. 17.
 
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