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SECHZEHNTES KAPITEL
Gebiet des gewöhnlichen Denkens übertragen dem, was in den höchsten
Spekulationen der Theologie ein Unterscheiden war zwischen Gottes
voluntas antecedens, kraft welcher er alle selig haben will, und der
voluntas consequens, die nur für die Auserkorenen gilt?1)
Es wird ein schlafloses Durchdenken aller Dinge ohne die Ein-
schränkung des wirklich wahrgenommenen kausalen Zusammen-
hanges, eine schier automatische Analyse, die schließlich auf ein ewiges
Numerieren hinausläuft. Kein Gebiet verlockte so sehr zu jener
Ausarbeitung als das der Tugenden und Sünden. Jede Sünde hat
ihre feste Anzahl von Ursachen, ihre Abarten, ihre Töchter, ihre
schädlichen Wirkungen. Zwölf Torheiten, sagt Dionysius, betrügen
den Sünder: er betört sich selbst, er verfällt dem Teufel, er legt Hand
an sich selbst, er verschmäht seinen Reichtum (die Tugend), er ver-
kauft sich umsonst (während er selbst für Christi Blut gekauft ist), er
wendet sich vom allertreusten Liebhaber ab, er glaubt dem Allmäch-
tigen zu trotzen, er dient dem Teufel, er erwirbt sich Unfrieden, er
öffnet sich den Zugang zur Hölle, versperrt sich den Weg zum Himmel
und schlägt jenen zur Hölle ein. Jede Nummer wird mit Schriftstellen,
Bildern und Einzelheiten illustriert, dargestellt, festgelegt, so daß sie
die entschiedene Gewißheit und Selbständigkeit einer Figur an einem
Kirchenportal bekommt. Sofort danach wird dieselbe Reihe aufs
neue in tieferem Sinne belegt. Von sieben Gesichtspunkten aus muß
die Schwere der Sünde ermessen werden: vom Standpunkt Gottes
aus, von dem des Sünders, des Stoffs, der Umstände,1 des Zwecks,
vom Standpunkt des Wesens der Sünde selbst und von dem ihrer
Folgen. Einige jener Punkte sind wieder untereingeteilt in acht andere,
in vierzehn, zum Beispiel der zweite: die Sünde ist schwerer oder leichter
je nach den empfangenen Wohltaten, den Kenntnissen, der früheren
Tugend, dem Amt, der Weihe, der Fähigkeit Widerstand zu bieten, dem
Glauben, dem Alter. Es gibt sechs Schwächen des Geistes, die zur
Sünde tauglich machen2). Es läßt sich dies alles mit dem Buddhismus
vergleichen: auch dort die moralische Systematik, um den Übungen
der Tugend einen Anhalt zu geben.
*) Dion. Cart., Opera, t. XVIII, p. 433.
2) Dion. Cart., Opera, t. XXXIX, p. 18 sq. De vitiis et virtutibus, p. 363,
De gravitate et enormitate peccati, ib. t. XXIX, p. 50.
SECHZEHNTES KAPITEL
Gebiet des gewöhnlichen Denkens übertragen dem, was in den höchsten
Spekulationen der Theologie ein Unterscheiden war zwischen Gottes
voluntas antecedens, kraft welcher er alle selig haben will, und der
voluntas consequens, die nur für die Auserkorenen gilt?1)
Es wird ein schlafloses Durchdenken aller Dinge ohne die Ein-
schränkung des wirklich wahrgenommenen kausalen Zusammen-
hanges, eine schier automatische Analyse, die schließlich auf ein ewiges
Numerieren hinausläuft. Kein Gebiet verlockte so sehr zu jener
Ausarbeitung als das der Tugenden und Sünden. Jede Sünde hat
ihre feste Anzahl von Ursachen, ihre Abarten, ihre Töchter, ihre
schädlichen Wirkungen. Zwölf Torheiten, sagt Dionysius, betrügen
den Sünder: er betört sich selbst, er verfällt dem Teufel, er legt Hand
an sich selbst, er verschmäht seinen Reichtum (die Tugend), er ver-
kauft sich umsonst (während er selbst für Christi Blut gekauft ist), er
wendet sich vom allertreusten Liebhaber ab, er glaubt dem Allmäch-
tigen zu trotzen, er dient dem Teufel, er erwirbt sich Unfrieden, er
öffnet sich den Zugang zur Hölle, versperrt sich den Weg zum Himmel
und schlägt jenen zur Hölle ein. Jede Nummer wird mit Schriftstellen,
Bildern und Einzelheiten illustriert, dargestellt, festgelegt, so daß sie
die entschiedene Gewißheit und Selbständigkeit einer Figur an einem
Kirchenportal bekommt. Sofort danach wird dieselbe Reihe aufs
neue in tieferem Sinne belegt. Von sieben Gesichtspunkten aus muß
die Schwere der Sünde ermessen werden: vom Standpunkt Gottes
aus, von dem des Sünders, des Stoffs, der Umstände,1 des Zwecks,
vom Standpunkt des Wesens der Sünde selbst und von dem ihrer
Folgen. Einige jener Punkte sind wieder untereingeteilt in acht andere,
in vierzehn, zum Beispiel der zweite: die Sünde ist schwerer oder leichter
je nach den empfangenen Wohltaten, den Kenntnissen, der früheren
Tugend, dem Amt, der Weihe, der Fähigkeit Widerstand zu bieten, dem
Glauben, dem Alter. Es gibt sechs Schwächen des Geistes, die zur
Sünde tauglich machen2). Es läßt sich dies alles mit dem Buddhismus
vergleichen: auch dort die moralische Systematik, um den Übungen
der Tugend einen Anhalt zu geben.
*) Dion. Cart., Opera, t. XVIII, p. 433.
2) Dion. Cart., Opera, t. XXXIX, p. 18 sq. De vitiis et virtutibus, p. 363,
De gravitate et enormitate peccati, ib. t. XXIX, p. 50.