„REALISMUS“ UND DIE GRENZEN DES BILDLICHEN DENKENS 295
Diese Anatomie der Sünde könnte leicht das Schuldgefühl, das sie
bestärken soll, dadurch schwächen, daß sie es auf das Ausklauben der
Klassifikation ablenkt, wenn nicht zugleich die Phantasie der Sünde
und die Vorstellung der Strafe aufs äußerste erregt wären. Niemand
kann im gegenwärtigen Leben die Enormität der Sünde vollkommen
erfassen oder völlig verstehen1). Alle moralischen Vorstellungen
werden mit einem unerträglichen Übergewicht beladen, indem sie
immer wieder in unmittelbare Beziehung zur Majestät Gottes gebracht
werden. Von jeder Sünde, auch der geringsten, wird das All betroffen.
Gleich wie die buddhistische Literatur den Applaus der himmlischen
Geschöpfe mit Blumenregen, Lichtschein und sachtem Erdbeben bei
einer großen Tat eines Bodhisattva kennt, so hört Dionysius, düsterer
gestimmt, wie alle Seligen und Gerechten, die himmlischen Sphären,
alle Elemente, ja sogar die unvernünftigen Wesen und unbeseelten Dinge
Rache über die Ungerechten schreien2). Sein Versuch, durch eine de-
taillierte Beschreibung und absichtlich Beklemmung erweckende Dar-
stellungen die Furcht vor Sünde, Tod, Gericht und Hölle aufs schmerz-
lichste zu verschärfen, entbehrt seiner grauenerregenden Wirkung
nicht, vielleicht gerade durch das Undichterische seines Geistes. Dante
hat die Finsternisse und die Greuel der Hölle mit Schönheit berührt:
Farinata und Ugolino sind in ihrer Verworfenheit heroisch, und der
flügelschlagende Luzifer tröstet uns durch seine Majestät. Ein bei all
seiner mystischen Intensität vollkommen undichterischer Mönch
wie Dionysius der Karthäuser gibt uns jedoch die Hölle ausschließ-
lich als Vorstellung höchsten Bangens und Elends. Die körper-
lichen Qualen und Schmerzen werden in ätzenden Farben geschildert.
Der Sünder muß angestrengt danach trachten, sie sich so lebendig wie
nur möglich vorzustellen. „Halten wir uns vor Augen — sagt Diony-
sius —, einen überheizten und glühenden Ofen und darin einen nackten
Mann liegend, der nimmer aus einer solchen Qual erlöst werden wird.
Wird uns nicht die Qual, ja nur der Anblick davon, unerträglich er-
scheinen? Wie unselig wird uns der Mann dünken! Stellen wir uns
vor, wie sich jener Mann in dem Ofen hin- und herwälzen würde, wie
er schreien, heulen, leben .würde, welch eine Angst ihn bedrängen,
D L. c. XXXIX, p. 37.
2) Ib. p. 56.
Diese Anatomie der Sünde könnte leicht das Schuldgefühl, das sie
bestärken soll, dadurch schwächen, daß sie es auf das Ausklauben der
Klassifikation ablenkt, wenn nicht zugleich die Phantasie der Sünde
und die Vorstellung der Strafe aufs äußerste erregt wären. Niemand
kann im gegenwärtigen Leben die Enormität der Sünde vollkommen
erfassen oder völlig verstehen1). Alle moralischen Vorstellungen
werden mit einem unerträglichen Übergewicht beladen, indem sie
immer wieder in unmittelbare Beziehung zur Majestät Gottes gebracht
werden. Von jeder Sünde, auch der geringsten, wird das All betroffen.
Gleich wie die buddhistische Literatur den Applaus der himmlischen
Geschöpfe mit Blumenregen, Lichtschein und sachtem Erdbeben bei
einer großen Tat eines Bodhisattva kennt, so hört Dionysius, düsterer
gestimmt, wie alle Seligen und Gerechten, die himmlischen Sphären,
alle Elemente, ja sogar die unvernünftigen Wesen und unbeseelten Dinge
Rache über die Ungerechten schreien2). Sein Versuch, durch eine de-
taillierte Beschreibung und absichtlich Beklemmung erweckende Dar-
stellungen die Furcht vor Sünde, Tod, Gericht und Hölle aufs schmerz-
lichste zu verschärfen, entbehrt seiner grauenerregenden Wirkung
nicht, vielleicht gerade durch das Undichterische seines Geistes. Dante
hat die Finsternisse und die Greuel der Hölle mit Schönheit berührt:
Farinata und Ugolino sind in ihrer Verworfenheit heroisch, und der
flügelschlagende Luzifer tröstet uns durch seine Majestät. Ein bei all
seiner mystischen Intensität vollkommen undichterischer Mönch
wie Dionysius der Karthäuser gibt uns jedoch die Hölle ausschließ-
lich als Vorstellung höchsten Bangens und Elends. Die körper-
lichen Qualen und Schmerzen werden in ätzenden Farben geschildert.
Der Sünder muß angestrengt danach trachten, sie sich so lebendig wie
nur möglich vorzustellen. „Halten wir uns vor Augen — sagt Diony-
sius —, einen überheizten und glühenden Ofen und darin einen nackten
Mann liegend, der nimmer aus einer solchen Qual erlöst werden wird.
Wird uns nicht die Qual, ja nur der Anblick davon, unerträglich er-
scheinen? Wie unselig wird uns der Mann dünken! Stellen wir uns
vor, wie sich jener Mann in dem Ofen hin- und herwälzen würde, wie
er schreien, heulen, leben .würde, welch eine Angst ihn bedrängen,
D L. c. XXXIX, p. 37.
2) Ib. p. 56.