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296

SECHZEHNTES KAPITEL

welcher Schmerz ihn durchdringen würde, vor allem, wenn er merkt,
daß jene unerträgliche Strafe niemals enden wird“’).
Man denkt unwillkürlich: Wie konnten diejenigen, die sich solche
Vorstellungen höllischer Qualen machten, einen Menschen auf Erden
lebendig verbrennen lassen?—Die Hitze des Feuers, die grausige Kälte,
die Ekelhaftigkeit der Würmer, der Gestank, Hunger und Durst, das
Gefesseltsein und die Finsternis, der unaussprechliche Schmutz der
Hölle, der endlose Widerhall von Geheul und Geschrei in den Ohren,
der Anblick der Teufel, alles wird wie das erstickende Leichentuch
eines Alpdrucks über Seele und Sinne des Lesers ausgebreitet. Noch
schneidender aber ist die Beklemmung der zerebralen Schmerzen:
der Reue, der Furcht, des hohlen Gefühls einer unendlichen Ent-
behrung und Verworfenheit, des unaussprechlichen Hasses gegen Gott
und Neides auf die Seligkeit all seiner Auserkorenen; im Gehirn nichts
als Verwirrung und Druck, das Bewußtsein erfüllt von Irrtümern und
falschen Vorstellungen, Verblendung und Wahnbegriffen. Und das
Wissen, daß dies alles für Zeit und Ewigkeit so sein wird, wird durch
künstliche Vergleiche bis zu einem schwindelnden Entsetzen in die
Höhe geschraubt2).
Daß die Furcht vor der ewigen Pein, sei es, daß sie sich als eine
plötzliche „göttliche Angst“, sei es, daß sie sich nagend wie ein langes
Siechtum, ein Druck, äußert, immer wieder als Beweggrund zur
Einkehr und Devotion angeführt wird, bedarf weder des Beweises
noch der Erörterung3). Alles war darauf angelegt. Ein Traktat über
die Vier Äußersten: Tod, Gericht, Hölle und ewiges Leben, vielleicht
nach dem von Dionysius übersetzt, war die übliche Tischlektüre für
die Gäste des Klosters Windesheim4). Wohl eine bittere Würze der
Mahlzeit. Mit so scharfen Mitteln jedoch wurde immer wieder die sitt-
liche Vervollkommnung angeregt. Der mittelalterliche Mensch ist wie
jemand, der schon zu lange mit zu starken Arzeneien bearbeitet ist.
Er reagiert nur noch auf die kräftigsten Reizmittel. Um das Lobens-
werte einer Tugend im vollsten Glanze erstrahlen zu lassen, können
H Dion. Cart., De quatuor hominum novissimis, Opera, t. XLI, p. 545.
2) Dion. Cart., De quatuor hominum novissimis, t. XLI, p. 489 ss.
3) Moll, Brugman, I, p. 20, 23, 28.
4) Ib. p. 320 1.
 
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