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REALISMUS“ UND DIE GRENZEN DES BILDLICHEN DENKENS 297

dem mittelalterlichen Geist nur die extremsten Beispiele genügen, bei
denen ein weniger zum äußersten getriebener Sittlichkeitsbegriff die
Tugend schon in ihre Karikatur verwandelt sehen würde. Für die
Geduld das Beispiel des heiligen Aegidius, der, von einem Pfeil ver-
wundet, Gott bat, daß seine Wunde, solange er lebe, nie heilen möchte.
Für Mäßigkeit das Exempel der Heiligen, die Asche in ihre Speisen
mengten, für Keuschheit das Vorbild jener, die eine Frau zu sich ins Bett
nahmen zur Probe ihrerFestigkeit, oder die jämmerlichenPhantasiender
Jungfrauen, die, um dem Feinde ihrer Keuschheit zu entgehen, einen
Bart bekamen oder ganz rauh behaart wurden. Oder auch der Reiz
liegt in der Extravaganz des Beispiels hinsichtlich des Alters des zum
Vorbild Erwählten: Der heilige Nikolaus veiweigerte an hohen Fest-
tagen die Muttermilch; für Standhaftigkeit empfiehlt Gerson das Vor-
bild des heiligen Quiricus, eines kleinen Märtyrers von drei Jahren oder
gar neun Monaten, der sich von dem Präfekten nicht trösten lassen
wollte und in den Abgrund geworfen wurde ’).
Das Bedürfnis, die Herrlichkeit der Tugend in so starken Dosen zu
genießen, steht auch wieder im Zusammenhang mit dem alles beherr-
schenden Idealismus. Das Sehen der Tugend als Idee entzog ihrer
Würdigung sozusagen den Boden des wirklichen Lebens; ihre Schön-
heit wurde in ihrem selbständigen Sein als äußerste Vollendung ge-
sehen, nicht in ihrer mühsamen alltäglichen Erfüllung unter Fallen
und Wiederaufstehen.
Der mittelalterliche Realismus (folglich der Hyperidealismus) muß
trotz allem Einschlag von christianisiertem Neuplatonismus als eine
primitive Einstellung des Geistes betrachtet werden. Es handelt sich
um die (von der Philosophie freilich sublimierte) Haltung des primitiven
Menschen im Leben, der allen abstrakten Dingen Wesen und Substanz
zuerkennt. Kann man die hyperbolische Verehrung der Tugend in
ihrer idealsten Form als einen hochreligiösen Gedanken betrachten,
so erkennt man in ihrem Gegenstück: der Verachtung der Welt deut-
lich das Glied, das das mittelalterliche Denken noch mit den Gedanken-
formen einer fernen Vorzeit verknüpft. Ich meine die Tatsache, daß
x) Das Beispiel der Heiligen Aegidius, Germanns, Quiricus bei, Gerson,
De via imitativa, III, p. 777; vgl. Contra gulam sermo, ib. p. 909. — Olivier
Maillard, Serm. de sanctis fol. 8a.
 
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