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SECHZEHNTES KAPITEL
die Traktate „ de contemptu mundi “ sich nicht davon losmachen können,
ein übermäßiges Gewicht auf die Schlechtigkeit des Materiellen zu
legen. Nichts fällt bei ihnen so schwer ins Gewicht als Beweggrund,
die Welt zu verschmähen, wie das Abstoßende der Leibesverrichtungen,
namentlich die der Ausscheidung und Fortpflanzung. Es ist der kümmer-
lichste Teil der mittelalterlichen Sittenlehre: der Abscheu vor dem
Menschen „formatus de spurcissimo spermate, conceptus in pruritu
carnis, sanguine menstruo nutritus, qui fertur esse tarn detestabilis et
immundus, ut ex ejus contactu fruges non germinent, arescant arbusta..-.
et si canes inde comederint, in rabiem efferantur“3). Was bedeutet dies,
neben in ihr Gegenteil umgebogener Sinnlichkeit, andres als die Aus-
läufer jener primitiven Form des Realismus, die den Wilden in Ex-
krementen und in allem, was Empfängnis und Geburt begleitet, magische
Substanzen fürchten läßt? Eine gerade und nicht sehr lange Linie ver-
bindet die magische Furcht, mit der die Naturvölker sich von der Frau
in ihren weiblichsten Verrichtungen ab wenden mit dem asketischen
Frauenhaß und Schimpf, der seit Tertullian und Hieronymus die christ-
liche Literatur verunziert.
Alles wird substantiell gedacht. Nirgends äußert sich dies so deutlich
wie in der Lehre von dem thesaurus ecclesiae, dem Schatz der über-
flüssigen Verdienste (operum supererogationum) Christi und aller
Heiligen. Obwohl der Begriff solch eines Schatzes und die Vorstellung,
daß jeder Gläubige als Glied des corpus mysticum Christi, der Kirche,
teilhat an diesem Schatz, schon sehr alt ist, kommt die Lehre, daß
diese guten Werke einen unerschöpflichen Vorrat bilden, der durch
die Kirche, namentlich durch den Papst vertrieben werden kann, erst
im 13. Jahrhundert auf. Alexander von Haies ist der erste, der thesau-
rus in dem technischen Sinn gebraucht, den das Wort seitdem be-
halten hat* 2). Nicht ohne Widerstand setzte sich die Lehre durch, um
endlich ihre vollkommene Darlegung und Beschreibung in der Bulle
Unigenitus von Clemens VI. (1343) zu finden. Der Schatz wird dort
ganz wie ein Kapital, das Christus Sankt Peter und seinen Jüngern
anvertraut, aufgefaßt, das noch täglich zunimmt, ja, je mehr Menschen
x) Innocentius III. De contemptu mundi 1. I, c. 1., Migne, t. CCXVII, p 702 ss.
2) Wetzer und Welte, Kirchenlexikon, XI, 1601.
SECHZEHNTES KAPITEL
die Traktate „ de contemptu mundi “ sich nicht davon losmachen können,
ein übermäßiges Gewicht auf die Schlechtigkeit des Materiellen zu
legen. Nichts fällt bei ihnen so schwer ins Gewicht als Beweggrund,
die Welt zu verschmähen, wie das Abstoßende der Leibesverrichtungen,
namentlich die der Ausscheidung und Fortpflanzung. Es ist der kümmer-
lichste Teil der mittelalterlichen Sittenlehre: der Abscheu vor dem
Menschen „formatus de spurcissimo spermate, conceptus in pruritu
carnis, sanguine menstruo nutritus, qui fertur esse tarn detestabilis et
immundus, ut ex ejus contactu fruges non germinent, arescant arbusta..-.
et si canes inde comederint, in rabiem efferantur“3). Was bedeutet dies,
neben in ihr Gegenteil umgebogener Sinnlichkeit, andres als die Aus-
läufer jener primitiven Form des Realismus, die den Wilden in Ex-
krementen und in allem, was Empfängnis und Geburt begleitet, magische
Substanzen fürchten läßt? Eine gerade und nicht sehr lange Linie ver-
bindet die magische Furcht, mit der die Naturvölker sich von der Frau
in ihren weiblichsten Verrichtungen ab wenden mit dem asketischen
Frauenhaß und Schimpf, der seit Tertullian und Hieronymus die christ-
liche Literatur verunziert.
Alles wird substantiell gedacht. Nirgends äußert sich dies so deutlich
wie in der Lehre von dem thesaurus ecclesiae, dem Schatz der über-
flüssigen Verdienste (operum supererogationum) Christi und aller
Heiligen. Obwohl der Begriff solch eines Schatzes und die Vorstellung,
daß jeder Gläubige als Glied des corpus mysticum Christi, der Kirche,
teilhat an diesem Schatz, schon sehr alt ist, kommt die Lehre, daß
diese guten Werke einen unerschöpflichen Vorrat bilden, der durch
die Kirche, namentlich durch den Papst vertrieben werden kann, erst
im 13. Jahrhundert auf. Alexander von Haies ist der erste, der thesau-
rus in dem technischen Sinn gebraucht, den das Wort seitdem be-
halten hat* 2). Nicht ohne Widerstand setzte sich die Lehre durch, um
endlich ihre vollkommene Darlegung und Beschreibung in der Bulle
Unigenitus von Clemens VI. (1343) zu finden. Der Schatz wird dort
ganz wie ein Kapital, das Christus Sankt Peter und seinen Jüngern
anvertraut, aufgefaßt, das noch täglich zunimmt, ja, je mehr Menschen
x) Innocentius III. De contemptu mundi 1. I, c. 1., Migne, t. CCXVII, p 702 ss.
2) Wetzer und Welte, Kirchenlexikon, XI, 1601.