DIE KUNST IM LEBEN
351
der Form1). Wenn man sich nun noch weiter von der rein bildenden
Kunst entfernt, dann kommt die Kleidung an die Reihe. Auch diese
gehört unstreitig zur Kunst. Hier jedoch liegt es schon in ihrer Be-
stimmung, daß Prunk und Putz das Übergewicht über die reine Schön-
heit haben, und außerdem zieht persönliche Hoffart die Kleidungs-
kunst in die Sphäre des Leidenschaftlichen und Sinnlichen hinein, wo
die Eigenschaften, die das Wesen der hohen Kunst ausmachen, Eben-
maß und Harmonie, unterliegen.
Eine Extravaganz wie die Kleidertracht von 1350 bis 1480 hat die
Mode späterer Zeiten nicht wieder erlebt, wenigstens nicht in einer
so allgemeinen und langanhaltenden Weise. Es gab auch später extra-
vagante Moden wie z. B. die Landsknechttracht um 1520 und das
französische adlige Kostüm von 1660; die zügellose Übertreibung und
Überladung jedoch, die für die französisch-burgundische Tracht ein
Jahrhundert lang charakteristisch ist, steht ohne Beispiel da. Da sieht
man, was der seinem ungestörten Trieb überlassene Schönheitssinn
jener Zeiten zustande brachte. Ein Hofkostüm wird mit Hunderten
von Edelsteinen überladen. Alle Maßverhältnisse werden bis ins
Lächerliche übertrieben. Der Frauen-Kopfputz nimmt die Zucker-
brotform des „hennin“ an; das Haar wird an den Schläfen und beim
Ansatz auf der Stirn entfernt oder verborgen, um die sonderbar ge-
wölbten Stirnen zu zeigen, die für schön galten; das decollete fängt
plötzlich an. Die Männerkleidung jedoch weist noch viel zahlreichere
Extravaganzen auf. Hier haben wir vor allen Dingen die langen Schuh-
spitzen oder „poulaines“, die sich die Ritter bei Nicopolis abschneiden
mußten, um entfliehen zu können; dann die eingeschnittenen Taillen,
die ballonartigen, aufgebauschten Ärmel, die an den Schultern in die
Höhe stehen, die houppelandes, die bis auf die Füße herabhängen, und
das kurze, kaum die Hüften bedeckende Wams, die hohen, zugespitzten
oder zylinderförmigen Mützen und Hüte, die Hauben wunderlich wie
ein Hahnenkamm oder ein flammendes Feuer um den Kopf drapiert.
Je feierlicher, desto extravaganter; denn all dies Schöne bedeutet
0 Betly Kurth, Die Blütezeit der Bildwirkerkunst zu Tournay und der
Burgundische Hof, Jahrbuch der Kunstsammlungen des Kaiserhauses, 34,
1917, 3.
351
der Form1). Wenn man sich nun noch weiter von der rein bildenden
Kunst entfernt, dann kommt die Kleidung an die Reihe. Auch diese
gehört unstreitig zur Kunst. Hier jedoch liegt es schon in ihrer Be-
stimmung, daß Prunk und Putz das Übergewicht über die reine Schön-
heit haben, und außerdem zieht persönliche Hoffart die Kleidungs-
kunst in die Sphäre des Leidenschaftlichen und Sinnlichen hinein, wo
die Eigenschaften, die das Wesen der hohen Kunst ausmachen, Eben-
maß und Harmonie, unterliegen.
Eine Extravaganz wie die Kleidertracht von 1350 bis 1480 hat die
Mode späterer Zeiten nicht wieder erlebt, wenigstens nicht in einer
so allgemeinen und langanhaltenden Weise. Es gab auch später extra-
vagante Moden wie z. B. die Landsknechttracht um 1520 und das
französische adlige Kostüm von 1660; die zügellose Übertreibung und
Überladung jedoch, die für die französisch-burgundische Tracht ein
Jahrhundert lang charakteristisch ist, steht ohne Beispiel da. Da sieht
man, was der seinem ungestörten Trieb überlassene Schönheitssinn
jener Zeiten zustande brachte. Ein Hofkostüm wird mit Hunderten
von Edelsteinen überladen. Alle Maßverhältnisse werden bis ins
Lächerliche übertrieben. Der Frauen-Kopfputz nimmt die Zucker-
brotform des „hennin“ an; das Haar wird an den Schläfen und beim
Ansatz auf der Stirn entfernt oder verborgen, um die sonderbar ge-
wölbten Stirnen zu zeigen, die für schön galten; das decollete fängt
plötzlich an. Die Männerkleidung jedoch weist noch viel zahlreichere
Extravaganzen auf. Hier haben wir vor allen Dingen die langen Schuh-
spitzen oder „poulaines“, die sich die Ritter bei Nicopolis abschneiden
mußten, um entfliehen zu können; dann die eingeschnittenen Taillen,
die ballonartigen, aufgebauschten Ärmel, die an den Schultern in die
Höhe stehen, die houppelandes, die bis auf die Füße herabhängen, und
das kurze, kaum die Hüften bedeckende Wams, die hohen, zugespitzten
oder zylinderförmigen Mützen und Hüte, die Hauben wunderlich wie
ein Hahnenkamm oder ein flammendes Feuer um den Kopf drapiert.
Je feierlicher, desto extravaganter; denn all dies Schöne bedeutet
0 Betly Kurth, Die Blütezeit der Bildwirkerkunst zu Tournay und der
Burgundische Hof, Jahrbuch der Kunstsammlungen des Kaiserhauses, 34,
1917, 3.