352
ACHTZEHNTES KAPITEL
Prunk, Staat, „estat“1). Das Trauergewand, in dem Philipp der Gute
nach der Ermordung seines Vaters den König von England in Troyes
empfängt, ist so lang, daß es von dem hohen Roß, auf dem er reitet,
herab bis auf den Boden fällt2).
Die verschwenderische Pracht erreicht in der Hoffestlichkeit ihren
Höhepunkt. Jeder erinnert sich der Beschreibungen der burgundischen
Hoffeste, wie des Bankettes zu Lille 1454, wo die Gäste beim Servieren
des Fasans ihre Kreuzzugsgelübde gegen die Türken ablegten, oder
des Hochzeitsfestes von Karl dem Kühnen und Margaretha von York zu
Brügge 14683). Es kann in unserer Vorstellung keinen größeren Ab-
stand geben als zwischen der stillen Weihe des Genter und des Löwe-
ner Altars und diesen Äußerungen barbarischen Fürstenaufwands.
Aus der Beschreibung all jener „entremets“ mit ihren Pasteten, in
denen Musikanten spielen, ihren aufgetakelten Schiffen und Burgen,
den Affen, Walfischen, Riesen und Zwergen und all der abgedroschenen
Allegorie, die dazu gehört, können wir sie uns nur als ungewöhnlich
abgeschmackte Aufführungen vorstellen.
Dennoch sehen wir hier leicht eine in mehr als einer Hinsicht über-
triebene Entfernung zwischen den beiden Extremen: der kirchlichen
Kunst und der Kunst der Hoffestlichkeiten. Zu allererst hat man sich
über die Funktion, die das Fest in der Gesellschaft ausübte, Rechen-
schaft abzulegen. Das Fest hatte noch ziemlich viel von der Funktion,
die es bei primitiven Völkern versah, beibehalten, nämlich die souveräne
Äußerung der Kultur zu sein, die Form, in der man gemeinschaftlich
seine höchste Lebensfreude äußert und sein Gemeinschaftsgefühl zum
Ausdruck bringt. Zu Zeiten großer Gemeinschaftserneuerung, wie
während der französischen Revolution, erwirbt das Fest manchmal
jene wichtige soziale und ästhetische Funktion aufs neue.
Der moderne Mensch kanninjedemRuhemomentin selbstgewählter
Entspannung individuell die Bestätigung seiner Lebensauffassung und
J) Pierre de Fenin, p. 624 von Bonne d’Artois: „et avec ce ne portoit point
d’estat sur son chief comment autres dames ä eile pareilles“.
2) Le livre des trahisons, p. 156.
3) Chastellain, III, p. 375; La Marche, II, p. 340, III, p. 165; d’Escouchy, II,
p. 116; Laborde, II; siehe Molinien, Les sources de l’hist. de France, nos. 3645,
3661, 3663, 5030; Inv. des arch. du Nord, IV, p. 195.
ACHTZEHNTES KAPITEL
Prunk, Staat, „estat“1). Das Trauergewand, in dem Philipp der Gute
nach der Ermordung seines Vaters den König von England in Troyes
empfängt, ist so lang, daß es von dem hohen Roß, auf dem er reitet,
herab bis auf den Boden fällt2).
Die verschwenderische Pracht erreicht in der Hoffestlichkeit ihren
Höhepunkt. Jeder erinnert sich der Beschreibungen der burgundischen
Hoffeste, wie des Bankettes zu Lille 1454, wo die Gäste beim Servieren
des Fasans ihre Kreuzzugsgelübde gegen die Türken ablegten, oder
des Hochzeitsfestes von Karl dem Kühnen und Margaretha von York zu
Brügge 14683). Es kann in unserer Vorstellung keinen größeren Ab-
stand geben als zwischen der stillen Weihe des Genter und des Löwe-
ner Altars und diesen Äußerungen barbarischen Fürstenaufwands.
Aus der Beschreibung all jener „entremets“ mit ihren Pasteten, in
denen Musikanten spielen, ihren aufgetakelten Schiffen und Burgen,
den Affen, Walfischen, Riesen und Zwergen und all der abgedroschenen
Allegorie, die dazu gehört, können wir sie uns nur als ungewöhnlich
abgeschmackte Aufführungen vorstellen.
Dennoch sehen wir hier leicht eine in mehr als einer Hinsicht über-
triebene Entfernung zwischen den beiden Extremen: der kirchlichen
Kunst und der Kunst der Hoffestlichkeiten. Zu allererst hat man sich
über die Funktion, die das Fest in der Gesellschaft ausübte, Rechen-
schaft abzulegen. Das Fest hatte noch ziemlich viel von der Funktion,
die es bei primitiven Völkern versah, beibehalten, nämlich die souveräne
Äußerung der Kultur zu sein, die Form, in der man gemeinschaftlich
seine höchste Lebensfreude äußert und sein Gemeinschaftsgefühl zum
Ausdruck bringt. Zu Zeiten großer Gemeinschaftserneuerung, wie
während der französischen Revolution, erwirbt das Fest manchmal
jene wichtige soziale und ästhetische Funktion aufs neue.
Der moderne Mensch kanninjedemRuhemomentin selbstgewählter
Entspannung individuell die Bestätigung seiner Lebensauffassung und
J) Pierre de Fenin, p. 624 von Bonne d’Artois: „et avec ce ne portoit point
d’estat sur son chief comment autres dames ä eile pareilles“.
2) Le livre des trahisons, p. 156.
3) Chastellain, III, p. 375; La Marche, II, p. 340, III, p. 165; d’Escouchy, II,
p. 116; Laborde, II; siehe Molinien, Les sources de l’hist. de France, nos. 3645,
3661, 3663, 5030; Inv. des arch. du Nord, IV, p. 195.