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Robert, Carl
Hallisches Winckelmannsprogramm (Band 17): Die Iliupersis des Polygnot — Halle a. S., 1893

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https://doi.org/10.11588/diglit.6003#0072
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III. Das Bild.

und zu dieser Gruppierung würde es allerdings vortrefflich passen, wenn wir in der geschorenen
Alten nicht eine beliebige Sclavin des Königshauses, sondern Hekabe selbst erblicken dürften. Die
linke untere Ecke der Pyramide füllen bis zur Mitte übergreifend Leichen von Trojanern, Leokritos,
den Odysseus, Eioneus, den Neoptolemos, Koroibos, den Diomedes erschlagen hat, also die Opfer der
Helden, die wir oben weiter rechts im Bilde finden; dazu würde es nun abermals vortrefflich passen,
wenn wir in dem sogenannten Pelis den von Menelaos getöteten Deiphobos erblicken dürften. Admet,
der nach Lesches von Philoktet erschlagen ist, scheint allerdings aus der Keihe herauszufallen, falls
nicht Polygnot einem andern Gedicht folgte, das ihn von der Hand eines andern Griechen fallen
Hess. Formell entspricht dieser linken Ecke mit den Toten rechts die Neoptolemos-Gruppe; aber
hier löst sich wieder die Symmetrie, ähnlich wie bei der Gruppe von Phokos und Iasos in der
Kekyia. Denn die Neoptolemos-Gruppe ist absichtlich isoliert. Sie bildet den Mittelpunkt der ganzen
Composition.

Dass in der rechten kleineren Abteilung Helena das Centrum ist, hat bereits Goethe erkannt:
„Hier sitzt sie wieder als Königin, bedient und umstanden von ihren Mägden, bewundert von einem
ehemaligen Liebhaber und Freier2) und von einem Herold ehrfurchtsvoll begrlisst. Von Jugend auf
ein Gegenstand der Verehrung, erregt sie die heftigsten Leidenschaften einer heroischen Welt, legt
ihren Freiern eine ewige Dienstbarkeit auf, wird geraubt, geheiratet, entführt und wieder erworben.
Sie entzückt, indem sie Verderben bringt, das Alter wie die Jugend, entwaffnet den rachgierigen
Gemahl; und vorher das Ziel eines verderblichen Krieges, erscheint sie nunmehr als der schönste
Zweck des Sieges und erst über Haufen von Toten und Gefangenen erhaben thront sie auf dem
Gipfel ihrer Wirkung. Alles ist vergeben und vergessen; denn sie ist wieder da. Der Lebendige
sieht die Lebendige wieder und erfreut sich in ihr des höchsten irdischen Gutes, des Anblicks einer
vollkommenen Gestalt. Und so scheint Welt und Nachwelt mit dem idäischen Schäfer einzustimmen,
der Macht und Weisheit neben der Schönheit gering achtete." Nicht streng symmetrisch, aber doch
mit unverkennbarer Responsion finden wir um Helena gruppiert: unten ihre beiden Sclavinnen Elektra
und Panthalis. höher neben und über ihr: links die Gruppe der Bittenden, Eurybates, Aithra, Demo-
phon und Klymene, rechts die der Bewundernden, Briseis, Iphis, Diomede und Helenos; denn auch
der Seher gehört zu den Bewundernden, und zwar bildet seine gramvolle Bewunderung zu der neu-
gierigen der Sclavinnen einen bedeutsamen Contrast, wie auch gewiss bei den vier Figuren links
Hoffnung. Erwartung und Sorge wirkungsvoll abgestuft waren. Auch formell ist die Responsion
insofern gewahrt, als von den je vier Figuren, die die Helena auf beiden Seiten umgeben, je drei
stehen, die vierte aber knieend oder sitzend dargestellt ist.

Die bedeutsame Gegenüberstellung von Helena und Briseis haben wieder Diderot und Goethe
zuerst erkannt und gewürdigt. „Mit grossem Verstand", schreibt dieser, „hat Polygnot hiernächst
Briseis, die zweite Helena, die nach ihr das grösste Unheil über die Griechen gebracht, nicht ferne
hingestellt, gewiss mit unschätzbarer Abstufung der Schönheit."

2) Goethe denkt dabei an Diomedes, denn ebenso wie Diderot las er XXV :i noch die Corriijjtel der Hand-
schrift Jio/ojAijc statt Jiofn'/örj. Aber wir können die Worte ruhig stehen lassen, da sie auch auf Helenos, dessen
Beziehung zu Helena Goethe entgangen ist, vorzüglich passen.
 
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