Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

Keine Zeugen.
Novelle von R. Edmund Hahn.
(Fortsetzung.)
Vierzehntes Kapitel.
Der Justizrath.
Eines Morgens, als Arwed von seiner Arbeit kam, fiel es ihm ein,
bei dem Justizrath Lichten vorzusprechen, welchen er seit einigen Tagen
nicht gesehen hatte.
Auf seine Frage cr-
wiederte der Portier
dem Baron, daß der
Herr Justizrath vor ei-
ner Viertelstunde ab-
gercist sei, mit dem
Zuge, welcher über B..
nach Sachsen führe.
Baron Arwed schwieg
betroffen, diese schnelle
Abreise ohne Abschied
befremdete ihn auf das
Höchste. Sollte sein
treuer Freuud traurige
Nachrichten aus der Hei-
mat erhalten haben?
Indem sich Arwed,
bestürmt von Sorgen
und wehmüthigcn Em-
pfindungen, zum Gehen
wandte, rief der phleg-
matische Portier: „Herr
Baron, verzeihen Sie,
fast hätte ich cs ver-
gessen, diesen Brief gab
mir der Herr Justizrath
zur Bestellung an Sie."
„Gott sei Dank!"
murmelte Arwed, riß
dem Manne den Brief
aus der Hand und las:
„Meintheurer Arwed!
„Umstände nöthigen
mich, auf einige Zeit zu
verreisen. Vielleicht bin
ich morgen schon wieder
da, vielleicht bleibe ich
wochenlang aus. So-
bald als ich kann, gebe
ich Ihnen Nachricht von
mir; sollte diese auch
mehrere Tage ausblei-
ben, werden Sie deß-
halb nicht besorgt. Ich
hoffe, daß Sie den


Jllustr. Welt. XIX. 4,

Lebensmuts) nicht verlieren, arbeiten Sie tüchtig fort und bauen Sie
stets, zu jeder Zeit, auf die unveränderliche Liebe JhreS alten Freundes.
Hätten Sie Gelegenheit, Fräulein von Werder wissen zu lassen, daß ich
sie in den nächsten zwei Wochen nicht sehen könnte, wäre es mir lieb.
Ich habe dem lieben, einsam lebenden Fräulein einen Besuch versprochen,
und möchte nicht, daß sie mich vergebens erwartete.
W.., am 18. Februar 18—
Immer der Ihrige
Ernst Lichten.
Arwed ging nachdenklich nach seiner Wohnung. So sehr ihn auch die
Abreise des Justizraths
beunruhigte, weil er
annahm, daß Lichten
neuen Spuren der von
ihm vermutheten Fäl-
schung nachgehe, ebenso
und vielleicht noch mehr
grübelte Arwed über
die zweite Hälfte dieses
Schreibens.
Von seinem Besuche
bei Melitta hatte der
Justizrath Arwed nur
wenig erzählt. Sie zu
sprechen hatte der Letz-
tere gar keine Gelegen-
heit, nur von ferne in
der Kirche hatte er sie
vor einigen Tagen er-
blickt. Einsam lebte das
Fräulein, wie Lichten
schrieb, also nicht in
der bunten Gesellschaft,
die sich in dem Hause
des Generals znsam-
menzufinden pflegte,
nicht bei der Frau von
Cibani, über welche Ar-
wed einige boshafte Ur-
theile gehört hatte, son-
dern wirklich bei der
Generalin und — was
den jungen Mann mit
besonderer Zufriedenheit
erfüllte — nicht in ver-
wandtschaftlichem Ver-
kehr mit Oskar Engel-
ström, welchem Arwed
immer ausgewichen war,
schon in den Knaben-
jahren. Der Leichtsinn,
den Oskar stets zur
Schau getragen hatte,
wie so mancher Andere
seine Tugenden, stieß
den ernsten Arwed ab.

23
 
Annotationen