Mercy schlief noch immer, als ein tuchüberspanntes
Gefährt, wie es die Hausirer benützen, langsam auf der
Straße herankam. Der Führer des Wagens, ein Mann
mit Hellen Augen und gutmütigem, gebräuntem Gesicht,
saß vorne und pfiff. Sein Pferd scheute vor etwas und
dies veranlaßte ihn, aufzuschauen. Er war in diesem
Augenblick dem Holunderbusch gegenüber und erblickte
Mercy hinter demselben liegend mit bleichem, erschöpftem
Gesicht. Ihr Hut war von der Stirne gefallen, ihr
Kopf gegen den Baumstamm gelehnt; eine Hand ruhte
auf ihrer Brust, die andere ausgestreckt auf den welken
Blättern, daneben ein kleines Bündel in einem roten Tuch,
welches ihren müden Fingern entfallen war — und dar-
über das goldene Morgensonnenlicht!
Der Führer des Wagens sprang herab. In demselben
Augenblick erwachte Mercy mit erschreckten Blicken. Sie
sprang auf die Füße und wollte davoneilen.
„Noch ein bißchen jung für so im Land herumzustreifen
— nicht, Mamsell?" sagte der Mann. Sein Ton war
milder als seine Worte.
„Bitte, lassen Sie mich," sagte Mercy und versuchte
an ihm vorüberzugehen.
„Natürlich, natürlich, wenn es Ihr Wille ist."
Mercy dankte ihm mit gesenkten Augen; sie war schon
auf der Straße.
„Da Sie meinen Weg gehen, habe ich nichts dagegen,
wenn Sie aufsteigen wollen."
„Nein, ich danke Ihnen, ich habe — ich habe kein
Geld, ich muß zu Fuß wandern."
„Sie können wohl abwarten, bis ich etwas von Ihnen
verlange, nicht wahr, Mamsell? Kommen Sie, steigen
Sie auf!"
„Und wollen Sie mich absteigen lasten, sobald ich es
wünsche?"
„Natürlich will ich, warum denn nicht? Hinauf mit
Ihnen! Hier vorsichtig über den Baum — so ist's recht!
Nun setzen Sie sich dort auf die Säcke, es sind Aepfel
darin. Fertig? — Gut, dann fahren wir weiter!"
Der Wagen war halb voll mit Säcken und Mercy
kletterte an das fernste Ende desselben.
„Für gewöhnlich bin ich kein Aepfelhändler, ich bin
ein Kräutersammler," erklärte der Fuhrmann, „aber
Kräuter kann man nicht das ganze Jahr über sammeln,
deshalb bin ich genötigt, im Winter mit Obst zu handeln.
Ich kaufe Aepfel von den Landleuten und bringe sie zur
Stadt nach Covent Garden und dahin fahre ich jetzt
gerade."
Mercy hörte zu, ohne ein Wort zu sprechen.
„Sie kennen Covent Garden? — Nicht weit von
Haymarket."
Mercy schüttelte den Kopf.
„Was, Sie sind nie dagewesen oder doch in der Nähe?"
Mercy schüttelte wieder den Kopf und senkte den Blick.
Der Fuhrmann wandte sich, um sie anzublicken.
„Will sie in Ruhe lassen, sie muß was auf dem Herzen
haben," dachte er im stillen, dann wandte er sich nochmals
um, nach ihr zu sehen.
„Was ist's, Mamsell, haben Sie schlimme Augen?"
„Sie schmerzen mich, ja, und sind ziemlich schwach
auch," sagte Mercy.
„Ich will gehangen sein, wenn sie nicht ganz so aus-
sehen, wie bei meinem Freund Tom Bart, rot und an-
geschwollen. Tom hatte sich erkältet, er hatte einmal bei
Nacht im Freien geschlafen, als wir Kräuter sammeln ge-
gangen waren. Die Kälte fiel auf Toms Augen, und er
wurde so blind wie ein Maulwurf."
Mercys Lippen zuckten. Der Fuhrmann hörte auf zu
schwatzen, als er bemerkte, daß er zu weit gegangen war,
und ließ dann den Aerger über sich selbst an seinem
Pferde aus.
„Vorwärts, du dumme, alte, verdrehte Kracke!" rief er.
Das Pferd setzte sich in Trab. Sie kamen durch ein
Dorf und Mercy las den Namen Childs Hill an der
Ecke eines Hauses.
„Gehen Sie nach London?" sagte Mercy schüchtern.
„Covent Garden — ist das London?"
„Eh?" Der Fuhrmann riß seine Augen weit auf in
Hellem Erstaunen.
Mercy zitterte und hielt den Kopf gesenkt. Eine Zeit
lang ging es in kleinem Trab vorwärts. Der Fuhrmann
svarf mehrmals flüchtige Blicke nach dem Mädchen und
sagte dann:
„Ich ärgere mich schändlich über mich selbst, daß ich
lagte, Tom sei so blind wie ein Maulwurf! Ein Maul-
wurf ist überhaupt gar nicht blind; ich habe eine Menge
von ihnen gefangen beim Kräutersammeln. Außerdem
war Tom entzweit mit seiner Frau, und das war schlim-
wer noch als seine Erkältung. — Vorwärts, vorwärts,
Ees, nichtsnutziges, lahmes Tier! — Sehen Sie, Toms
-trau lief davon. Sie war so jung wie Sie und sah wohl
ebenso gut aus. Aber sie war nichts wert, das war sie,
und das brach Toms Herz, wie man sagt. Dann gab
<wm das Kräutersammeln auf; er hatte kein Gemüt mehr
Nur. Das Kräutersammeln ist eine Sache, zu welcher
demut gehört. Dann fing er an, mit Aepfeln zu han-
und jetzt handelt er mit heißen Kartoffeln, und da
" blind ist, hat er einen Knaben bei sich, um sie zu fahren.
d diese Frau ist an allem schuld. ,Jim Grundsell/
Illustrirte Melt.
sagte er zu mir — so heiße ich nämlich — ,Jim/ sagte er,
chänge Dein Herz an nichts/ sagte er, .behalte Dein Ge-
sicht und bleibe beim Kräutersammeln/ — Na, du ver-
drehte alte Schraube, vorwärts, vorwärst! — Und so führte
ich denn den Handel allein fort. Meine Frau, die ist
krank, nächste Weihnachten sind es zwölf Monate, daß sie
nicht mehr aus dem Bett gekommen ist, sie fühlt sich auch
recht einsam, wenn sie immer so allein daliegt; grämt sich
vielleicht auch ein bißchen, und — na ja."
Jetzt folgte ein langes Schweigen. Sie verließen die
grünen Felder und fuhren durch lange, endlose Häuser-
reihen, viel länger, als Mercy sie je zuvor gesehen hatte.
Obgleich die Sonne schon wach, brannten die Straßen-
laternen immer noch. Sie kamen an einer Kirche vorbei
und Mercy sah an der Uhr, daß es nahe an acht war.
Der Verkehr war um diese Zeit schon ein sehr lebhafter;
eine Menge Menschen verfolgte ihren Weg nach dieser
oder jener Richtung, Droschken und Omnibusse rasselten
hierhin und dorthin. Mercy saß halb betäubt in ihrer
Ecke, die merkwürdige, große Stadt erschreckte sie und für
einen Augenblick vergaß sie selbst ihren Kummer.
Als sie Covent Garden erweicht hatten, hielt der Fuhr-
mann an, nickte einigen Kollegen zu und begrüßte andere
durch heiteres Anrufen.
Mit naiver Verwunderung blickte Mercy um sich.
Alles erschien ihr wie ein kleines Babel, all dieser Tumult,
Gelächter, Rufen, Schreien, Streiten und Fluchen.
Ihr Kopf schmerzte. Sie stieg ab, ohne zu wissen,
was sie zunächst thun sollte. Wohin sollte sie gehen?
Was war sie in diesem Wirrsal von London, welches ihr
trostloser erschien als die wildeste Einöde?
Einen Augenblick stand sie auf dem Pflaster mit ihrem
kleinen Bündel in der Hand. Die ganze seltsame Welt
um sie her schien sich im Kreise um sie zu drehen, Thränen
traten in ihre Augen, ihre Sinne schwanden.
Im nächsten Augenblick fühlte sie sich umfaßt und in
den Wagen gehoben — dann erinnerte sie sich an nichts
mehr.
-i«
Zwei Tage später trat Hugo in die Kirche des Sankt
Margaretklosters. Es war Abendgottesdienst und das
Mittelschiff gedrängt voll, von der Kanzel bis zu den
Säulenreihen. Die Nebengänge, welche keine Sitze hatten,
waren nur Halbwegs gefüllt, der übrige Teil derselben fast
ganz leer, nur hie und da lehnte ein Mann an einer
Säule der prachtvollen Kolonnade. Der Gottesdienst
hatte bereits begonnen. Hugo ging geräuschlos in dem
einen Seitengange dahin, bis er hinter der zusammen-
gedrängten Gläubigenschar stand. Dann stellte er sich
neben eine Säule und blickte aufmerksam nach der Volks-
menge im Schiff.
Er war in Hörweite des Predigers, aber er achtete
kaum auf ihn. Seine Augen durchliefen die Kirche, bis
sie zuletzt auf einer Stelle in dem südlichen Querschisi
anhielten, wo einige Nonnen saßen, mit niedergeschlagenen,
halbgeschlossenen Augen. Das Gesicht der einen war durch
den herabgelassenen Schleier ganz verhüllt, ihre Hand hielt
mit nervösem Griff den Rosenkranz an die Brust gedrückt.
Nicht weit von ihr war ein anderes Gesicht, welches
Hugos Blick auf sich zog. Es war das jugendlich schöne
Gesicht Gretas, auf dem ein Ausdruck tiefen, andächtigen
Ernstes lag. Ihre Augen schimmerten in feuchtem Glanze.
Von diesen beiden trennten sich seine Blicke auf Minuten
kaum; vorübergehend nur weilten seine Gedanken bei den
Worten, welche über das Volk Hinflossen und in stummer
Andacht vernommen wurden.
Hugo hörte halb unbewußt zu, indem er seine Blicke
bald auf die Nonne mit dem herabfallenden Schleier, bald
auf das schöne, nach oben gewendete Gesicht neben ihr
richtete. Endlich traf ihn ein Wort, das seine ganze
Seele erzittern machte. Männer, Frauen, die stumme
Menge, Pfeiler, Bogen, die Fenster mit den gemalten
Heiligen, der Altar mit den brennenden Lichtern, der weiß
bekleidete Chor und das bleiche, hagere Gesicht mit den von
Begeisterung flammenden Augen, oben auf der Kanzel —
alles verschwand in diesem Augenblick.
„Was wahr ist im Reich der Gedanken, kann nicht
falsch sein, wenn es That geworden," schallte das Priester-
wort. „Ihr aber geht hin und thut BöseS und rechtfertigt
die Sünde dann vor dem eigenen, im Banne liegenden
Denken. Kein Weg, noch so dunkel, der nicht als der
Weg des Lichtes schon erschienen; keiner so abseits, der
nicht dennoch für den richtigen schon gehalten worden
wäre. Vor der Lüge hütet euch, mit der ihr euer eigen
Herz bethöret — denn das Ende davon ist der Tod!"
Mit bleichem, blutlosem Gesicht, die Augen weit auf-
gerissen, schwankte Hugo einen Schritt zurück und hielt
sich dann mit zitternder Hand an dem Pfeiler, neben dem
er gestanden. Das rauhe Schleifen seines Fußes wurde
in der grabesstillen Kirche gehört. Hier und dort wandte
sich ein Gesicht ihm zu. Doch seine Erregung dauerte nur
einen Augenblick; dann verzogen sich seine Lippen zu
einem spöttischen Lächeln, welches zeigte, daß der Engel
in ihm ein weiteresmal unterlegen.
Die Predigt endigte mit einem machtvollen Hinweis
auf die Unwandelbarkeit des göttlichen Gesetzes und die
ewigen Geschicke der Menschheit.
„Die Welt ist voll Wechsel," rief der Priester, „aber
461
die Menschen, die sich am meisten zu ändern scheinen,
ändern sich am wenigsten. Die Sterne oben am Firma-
ment sahen den Beginn und das Ende von Jahrtausen-
den; ehe der Mensch war, waren sie. Der Fluß, welcher
durch unsere Stadt fließt, floß schon vor Jahrhunderten
diesen Weg; Generationen von Menschen sind erstanden
und vergangen in Freude und Kummer und immer noch
umrauschen dieselben Gewässer dieselben Ufer. Sterne und
Gewäsier mögen vergehen, aber du bleibest; sie alle ver-
alten wie ein Kleid, und wie ein Gewand veränderst du
sie, und sie werden verändert, du aber bist derselbe und
deine Jahre nehmen kein Ende."
Der Prediger hatte geschlossen. Die geräuschvolle
Bewegung, welche jetzt unter der Menge entstand, bewies,
mit welcher Spannung dieselbe zugehört hatte.
Die nun folgende Vesperhymne wurde von der ganzen
Gemeinde stehend gesungen. Eine Stimme aber sang sie
nicht mit; die festverschlossenen Lippen Hugos waren das
Symbol seines festverschlossenen Herzens.
Er fragte sich selbst, ob es wahr sei, daß die Menschen
fortbestehen würden, wenn selbst der Glanz der Sterne
einst erlösche.
„Pah! Der Mensch, was ist er? Diese dichtgescharte
Menge, deren mächtige Stimme anschwoll wie die brau-
sende See, was war sie? In der alten Kirche, wo sie
sangen, hatten andere Menschen vor ihnen gesungen, und
wo waren diese jetzt? Wer konnte sagen, daß sie nicht
der Vernichtung anheimgefallen seien? Sie hatten gelebt,
geglaubt und waren gestorben, sie waren dahin — ,dahin'
mit ihren Sünden und Sorgen, dahin mit ihren Tugen-
den und Verdiensten, dahin und verschwunden aus Aller
Gesicht, aus Aller Erinnerung, und keine ihrer Stimmen
drang aus dem Abgrund des Todes hervor, diese Hymne
der Hoffnung mitzusingen! Hoffnung der Ewigkeit! Das
ist ein Traum. Ein Traum, wie ihn die große, kummer-
belavene Masse, Kirchen und Kapellen füllend,-Zeitalter
um Zeitalter geträumt hat. Aber ein Traum ist's, von
welchem es kein Erwachen gibt, um zu erfahren, daß er
nur Täuschung gewesen."
Der Priester und der Chor verließen die Kirche, dann
brach die Gemeinde auf und trennte sich. Hugo stand
noch eine Weile still, immer noch an die Säule gelehnt.
Die Nonnen erhoben sich zuletzt und verschwanden durch
eine kleine Thüre, die nach dem südlichen Kreuzgang führte.
Greta ging einige Schritte hinter ihnen. Als die Kirche
sich geleert und die junge Frau sich von ihrem Sitze er-
hoben hatte, fielen ihre Augen auf Hugo, dann senkte sie
ihr Gesicht, und sie ging mit beschleunigten Schritten dem
Ausgange zu. Hugo folgte ihr und trat in die Sakristei ein.
Vor ihm war eine andere Thüre, welche in das
Kloster führte. Die letzte der Nonnen ging eben durch
dieselbe hinaus.
Greta stand in der Sakristei, bleich, mit kummervollem
Gesicht, eine Hand auf der Brust, die andere an den
Stamm eines Kruzifixes gelegt, welches an der Wand
hing. Als sie sah, daß er ihr nachgegangen, war ihr
erster Impuls, fortzueilen, ihr zweiter zu seinen Füßen
auf die Kniee zu sinken. Sie folgte jedoch keinem von
beiden. Ihre Schwachheit besiegend, obgleich immer noch
vom Kopf bis zu den Füßen zitternd, wandte sie sich ihm
zu mit mutig fragendem Blick.
„Was kommst Du hieher? Ich wünsche nicht mit
Dir zu sprechen, laß mich meinen Weg gehen!" sagte sie.
Hugo machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten. Er
stand vor ihr mit niedergeschlagenen Augen, das kranke
Bein tief gebogen.
„Ich komme, Dir Lebewohl zu sagen," sprach er ruhig,
„komme, Dir zu sagen, daß wir uns nie Wiedersehen
werden!"
„O, wären wir doch für immer von einander geschie-
den, bevor wir uns das letztemal trafen," antwortete
Greta lebhaft.
„O, hätten wir uns doch nie gesehen!" gab Hugo
mit leiser Stimme zurück.
„Das war eine Lüge, durch die Du mich von meinem
Manne trenntest, gestehe eS!"
„Ja —Gott vergebe mir!"
„Und Du wußtest, daß es eine Lüge war?" sagte
Greta.
„Ja, ich wußte es!"
„Wo ist dann Dein Schamgefühl, daß Du mir noch
ins Gesicht sehen kannst? Oder hast Du keines?"
„Und Du, hast Du kein Mitleid?" sagte Hugo.
„Welches Mitleid hast Du für mich gehabt? Hast
Du mir nicht schon genug Leids angethan?"
„Das ist wahr, Gott weiß es! Er weiß aber auch,
wie elend ich bin. Habe Mitleid und vergib — und sage
mir Lebewohl!"
Etwas wie tiefe Reue in seiner Stimme rührte sie.
Sie schwieg.
„Der Priester ist im Irrtum," fuhr Hugo fort, „es
gibt keinen Geist des Bösen. Wir werden durch unsere
eigenen Leidenschaften verführt, und die mächtigste dieser
Leidenschaften ist die Liebe."
„Es ist Dein Werk, daß ich hier bin!" sagte Greta.
„Wollte Gott, es wäre mein Werk auch, daß Du hier
bliebest!"
„Das ist ein Gebet, das der Himmel nicht erhören
Gefährt, wie es die Hausirer benützen, langsam auf der
Straße herankam. Der Führer des Wagens, ein Mann
mit Hellen Augen und gutmütigem, gebräuntem Gesicht,
saß vorne und pfiff. Sein Pferd scheute vor etwas und
dies veranlaßte ihn, aufzuschauen. Er war in diesem
Augenblick dem Holunderbusch gegenüber und erblickte
Mercy hinter demselben liegend mit bleichem, erschöpftem
Gesicht. Ihr Hut war von der Stirne gefallen, ihr
Kopf gegen den Baumstamm gelehnt; eine Hand ruhte
auf ihrer Brust, die andere ausgestreckt auf den welken
Blättern, daneben ein kleines Bündel in einem roten Tuch,
welches ihren müden Fingern entfallen war — und dar-
über das goldene Morgensonnenlicht!
Der Führer des Wagens sprang herab. In demselben
Augenblick erwachte Mercy mit erschreckten Blicken. Sie
sprang auf die Füße und wollte davoneilen.
„Noch ein bißchen jung für so im Land herumzustreifen
— nicht, Mamsell?" sagte der Mann. Sein Ton war
milder als seine Worte.
„Bitte, lassen Sie mich," sagte Mercy und versuchte
an ihm vorüberzugehen.
„Natürlich, natürlich, wenn es Ihr Wille ist."
Mercy dankte ihm mit gesenkten Augen; sie war schon
auf der Straße.
„Da Sie meinen Weg gehen, habe ich nichts dagegen,
wenn Sie aufsteigen wollen."
„Nein, ich danke Ihnen, ich habe — ich habe kein
Geld, ich muß zu Fuß wandern."
„Sie können wohl abwarten, bis ich etwas von Ihnen
verlange, nicht wahr, Mamsell? Kommen Sie, steigen
Sie auf!"
„Und wollen Sie mich absteigen lasten, sobald ich es
wünsche?"
„Natürlich will ich, warum denn nicht? Hinauf mit
Ihnen! Hier vorsichtig über den Baum — so ist's recht!
Nun setzen Sie sich dort auf die Säcke, es sind Aepfel
darin. Fertig? — Gut, dann fahren wir weiter!"
Der Wagen war halb voll mit Säcken und Mercy
kletterte an das fernste Ende desselben.
„Für gewöhnlich bin ich kein Aepfelhändler, ich bin
ein Kräutersammler," erklärte der Fuhrmann, „aber
Kräuter kann man nicht das ganze Jahr über sammeln,
deshalb bin ich genötigt, im Winter mit Obst zu handeln.
Ich kaufe Aepfel von den Landleuten und bringe sie zur
Stadt nach Covent Garden und dahin fahre ich jetzt
gerade."
Mercy hörte zu, ohne ein Wort zu sprechen.
„Sie kennen Covent Garden? — Nicht weit von
Haymarket."
Mercy schüttelte den Kopf.
„Was, Sie sind nie dagewesen oder doch in der Nähe?"
Mercy schüttelte wieder den Kopf und senkte den Blick.
Der Fuhrmann wandte sich, um sie anzublicken.
„Will sie in Ruhe lassen, sie muß was auf dem Herzen
haben," dachte er im stillen, dann wandte er sich nochmals
um, nach ihr zu sehen.
„Was ist's, Mamsell, haben Sie schlimme Augen?"
„Sie schmerzen mich, ja, und sind ziemlich schwach
auch," sagte Mercy.
„Ich will gehangen sein, wenn sie nicht ganz so aus-
sehen, wie bei meinem Freund Tom Bart, rot und an-
geschwollen. Tom hatte sich erkältet, er hatte einmal bei
Nacht im Freien geschlafen, als wir Kräuter sammeln ge-
gangen waren. Die Kälte fiel auf Toms Augen, und er
wurde so blind wie ein Maulwurf."
Mercys Lippen zuckten. Der Fuhrmann hörte auf zu
schwatzen, als er bemerkte, daß er zu weit gegangen war,
und ließ dann den Aerger über sich selbst an seinem
Pferde aus.
„Vorwärts, du dumme, alte, verdrehte Kracke!" rief er.
Das Pferd setzte sich in Trab. Sie kamen durch ein
Dorf und Mercy las den Namen Childs Hill an der
Ecke eines Hauses.
„Gehen Sie nach London?" sagte Mercy schüchtern.
„Covent Garden — ist das London?"
„Eh?" Der Fuhrmann riß seine Augen weit auf in
Hellem Erstaunen.
Mercy zitterte und hielt den Kopf gesenkt. Eine Zeit
lang ging es in kleinem Trab vorwärts. Der Fuhrmann
svarf mehrmals flüchtige Blicke nach dem Mädchen und
sagte dann:
„Ich ärgere mich schändlich über mich selbst, daß ich
lagte, Tom sei so blind wie ein Maulwurf! Ein Maul-
wurf ist überhaupt gar nicht blind; ich habe eine Menge
von ihnen gefangen beim Kräutersammeln. Außerdem
war Tom entzweit mit seiner Frau, und das war schlim-
wer noch als seine Erkältung. — Vorwärts, vorwärts,
Ees, nichtsnutziges, lahmes Tier! — Sehen Sie, Toms
-trau lief davon. Sie war so jung wie Sie und sah wohl
ebenso gut aus. Aber sie war nichts wert, das war sie,
und das brach Toms Herz, wie man sagt. Dann gab
<wm das Kräutersammeln auf; er hatte kein Gemüt mehr
Nur. Das Kräutersammeln ist eine Sache, zu welcher
demut gehört. Dann fing er an, mit Aepfeln zu han-
und jetzt handelt er mit heißen Kartoffeln, und da
" blind ist, hat er einen Knaben bei sich, um sie zu fahren.
d diese Frau ist an allem schuld. ,Jim Grundsell/
Illustrirte Melt.
sagte er zu mir — so heiße ich nämlich — ,Jim/ sagte er,
chänge Dein Herz an nichts/ sagte er, .behalte Dein Ge-
sicht und bleibe beim Kräutersammeln/ — Na, du ver-
drehte alte Schraube, vorwärts, vorwärst! — Und so führte
ich denn den Handel allein fort. Meine Frau, die ist
krank, nächste Weihnachten sind es zwölf Monate, daß sie
nicht mehr aus dem Bett gekommen ist, sie fühlt sich auch
recht einsam, wenn sie immer so allein daliegt; grämt sich
vielleicht auch ein bißchen, und — na ja."
Jetzt folgte ein langes Schweigen. Sie verließen die
grünen Felder und fuhren durch lange, endlose Häuser-
reihen, viel länger, als Mercy sie je zuvor gesehen hatte.
Obgleich die Sonne schon wach, brannten die Straßen-
laternen immer noch. Sie kamen an einer Kirche vorbei
und Mercy sah an der Uhr, daß es nahe an acht war.
Der Verkehr war um diese Zeit schon ein sehr lebhafter;
eine Menge Menschen verfolgte ihren Weg nach dieser
oder jener Richtung, Droschken und Omnibusse rasselten
hierhin und dorthin. Mercy saß halb betäubt in ihrer
Ecke, die merkwürdige, große Stadt erschreckte sie und für
einen Augenblick vergaß sie selbst ihren Kummer.
Als sie Covent Garden erweicht hatten, hielt der Fuhr-
mann an, nickte einigen Kollegen zu und begrüßte andere
durch heiteres Anrufen.
Mit naiver Verwunderung blickte Mercy um sich.
Alles erschien ihr wie ein kleines Babel, all dieser Tumult,
Gelächter, Rufen, Schreien, Streiten und Fluchen.
Ihr Kopf schmerzte. Sie stieg ab, ohne zu wissen,
was sie zunächst thun sollte. Wohin sollte sie gehen?
Was war sie in diesem Wirrsal von London, welches ihr
trostloser erschien als die wildeste Einöde?
Einen Augenblick stand sie auf dem Pflaster mit ihrem
kleinen Bündel in der Hand. Die ganze seltsame Welt
um sie her schien sich im Kreise um sie zu drehen, Thränen
traten in ihre Augen, ihre Sinne schwanden.
Im nächsten Augenblick fühlte sie sich umfaßt und in
den Wagen gehoben — dann erinnerte sie sich an nichts
mehr.
-i«
Zwei Tage später trat Hugo in die Kirche des Sankt
Margaretklosters. Es war Abendgottesdienst und das
Mittelschiff gedrängt voll, von der Kanzel bis zu den
Säulenreihen. Die Nebengänge, welche keine Sitze hatten,
waren nur Halbwegs gefüllt, der übrige Teil derselben fast
ganz leer, nur hie und da lehnte ein Mann an einer
Säule der prachtvollen Kolonnade. Der Gottesdienst
hatte bereits begonnen. Hugo ging geräuschlos in dem
einen Seitengange dahin, bis er hinter der zusammen-
gedrängten Gläubigenschar stand. Dann stellte er sich
neben eine Säule und blickte aufmerksam nach der Volks-
menge im Schiff.
Er war in Hörweite des Predigers, aber er achtete
kaum auf ihn. Seine Augen durchliefen die Kirche, bis
sie zuletzt auf einer Stelle in dem südlichen Querschisi
anhielten, wo einige Nonnen saßen, mit niedergeschlagenen,
halbgeschlossenen Augen. Das Gesicht der einen war durch
den herabgelassenen Schleier ganz verhüllt, ihre Hand hielt
mit nervösem Griff den Rosenkranz an die Brust gedrückt.
Nicht weit von ihr war ein anderes Gesicht, welches
Hugos Blick auf sich zog. Es war das jugendlich schöne
Gesicht Gretas, auf dem ein Ausdruck tiefen, andächtigen
Ernstes lag. Ihre Augen schimmerten in feuchtem Glanze.
Von diesen beiden trennten sich seine Blicke auf Minuten
kaum; vorübergehend nur weilten seine Gedanken bei den
Worten, welche über das Volk Hinflossen und in stummer
Andacht vernommen wurden.
Hugo hörte halb unbewußt zu, indem er seine Blicke
bald auf die Nonne mit dem herabfallenden Schleier, bald
auf das schöne, nach oben gewendete Gesicht neben ihr
richtete. Endlich traf ihn ein Wort, das seine ganze
Seele erzittern machte. Männer, Frauen, die stumme
Menge, Pfeiler, Bogen, die Fenster mit den gemalten
Heiligen, der Altar mit den brennenden Lichtern, der weiß
bekleidete Chor und das bleiche, hagere Gesicht mit den von
Begeisterung flammenden Augen, oben auf der Kanzel —
alles verschwand in diesem Augenblick.
„Was wahr ist im Reich der Gedanken, kann nicht
falsch sein, wenn es That geworden," schallte das Priester-
wort. „Ihr aber geht hin und thut BöseS und rechtfertigt
die Sünde dann vor dem eigenen, im Banne liegenden
Denken. Kein Weg, noch so dunkel, der nicht als der
Weg des Lichtes schon erschienen; keiner so abseits, der
nicht dennoch für den richtigen schon gehalten worden
wäre. Vor der Lüge hütet euch, mit der ihr euer eigen
Herz bethöret — denn das Ende davon ist der Tod!"
Mit bleichem, blutlosem Gesicht, die Augen weit auf-
gerissen, schwankte Hugo einen Schritt zurück und hielt
sich dann mit zitternder Hand an dem Pfeiler, neben dem
er gestanden. Das rauhe Schleifen seines Fußes wurde
in der grabesstillen Kirche gehört. Hier und dort wandte
sich ein Gesicht ihm zu. Doch seine Erregung dauerte nur
einen Augenblick; dann verzogen sich seine Lippen zu
einem spöttischen Lächeln, welches zeigte, daß der Engel
in ihm ein weiteresmal unterlegen.
Die Predigt endigte mit einem machtvollen Hinweis
auf die Unwandelbarkeit des göttlichen Gesetzes und die
ewigen Geschicke der Menschheit.
„Die Welt ist voll Wechsel," rief der Priester, „aber
461
die Menschen, die sich am meisten zu ändern scheinen,
ändern sich am wenigsten. Die Sterne oben am Firma-
ment sahen den Beginn und das Ende von Jahrtausen-
den; ehe der Mensch war, waren sie. Der Fluß, welcher
durch unsere Stadt fließt, floß schon vor Jahrhunderten
diesen Weg; Generationen von Menschen sind erstanden
und vergangen in Freude und Kummer und immer noch
umrauschen dieselben Gewässer dieselben Ufer. Sterne und
Gewäsier mögen vergehen, aber du bleibest; sie alle ver-
alten wie ein Kleid, und wie ein Gewand veränderst du
sie, und sie werden verändert, du aber bist derselbe und
deine Jahre nehmen kein Ende."
Der Prediger hatte geschlossen. Die geräuschvolle
Bewegung, welche jetzt unter der Menge entstand, bewies,
mit welcher Spannung dieselbe zugehört hatte.
Die nun folgende Vesperhymne wurde von der ganzen
Gemeinde stehend gesungen. Eine Stimme aber sang sie
nicht mit; die festverschlossenen Lippen Hugos waren das
Symbol seines festverschlossenen Herzens.
Er fragte sich selbst, ob es wahr sei, daß die Menschen
fortbestehen würden, wenn selbst der Glanz der Sterne
einst erlösche.
„Pah! Der Mensch, was ist er? Diese dichtgescharte
Menge, deren mächtige Stimme anschwoll wie die brau-
sende See, was war sie? In der alten Kirche, wo sie
sangen, hatten andere Menschen vor ihnen gesungen, und
wo waren diese jetzt? Wer konnte sagen, daß sie nicht
der Vernichtung anheimgefallen seien? Sie hatten gelebt,
geglaubt und waren gestorben, sie waren dahin — ,dahin'
mit ihren Sünden und Sorgen, dahin mit ihren Tugen-
den und Verdiensten, dahin und verschwunden aus Aller
Gesicht, aus Aller Erinnerung, und keine ihrer Stimmen
drang aus dem Abgrund des Todes hervor, diese Hymne
der Hoffnung mitzusingen! Hoffnung der Ewigkeit! Das
ist ein Traum. Ein Traum, wie ihn die große, kummer-
belavene Masse, Kirchen und Kapellen füllend,-Zeitalter
um Zeitalter geträumt hat. Aber ein Traum ist's, von
welchem es kein Erwachen gibt, um zu erfahren, daß er
nur Täuschung gewesen."
Der Priester und der Chor verließen die Kirche, dann
brach die Gemeinde auf und trennte sich. Hugo stand
noch eine Weile still, immer noch an die Säule gelehnt.
Die Nonnen erhoben sich zuletzt und verschwanden durch
eine kleine Thüre, die nach dem südlichen Kreuzgang führte.
Greta ging einige Schritte hinter ihnen. Als die Kirche
sich geleert und die junge Frau sich von ihrem Sitze er-
hoben hatte, fielen ihre Augen auf Hugo, dann senkte sie
ihr Gesicht, und sie ging mit beschleunigten Schritten dem
Ausgange zu. Hugo folgte ihr und trat in die Sakristei ein.
Vor ihm war eine andere Thüre, welche in das
Kloster führte. Die letzte der Nonnen ging eben durch
dieselbe hinaus.
Greta stand in der Sakristei, bleich, mit kummervollem
Gesicht, eine Hand auf der Brust, die andere an den
Stamm eines Kruzifixes gelegt, welches an der Wand
hing. Als sie sah, daß er ihr nachgegangen, war ihr
erster Impuls, fortzueilen, ihr zweiter zu seinen Füßen
auf die Kniee zu sinken. Sie folgte jedoch keinem von
beiden. Ihre Schwachheit besiegend, obgleich immer noch
vom Kopf bis zu den Füßen zitternd, wandte sie sich ihm
zu mit mutig fragendem Blick.
„Was kommst Du hieher? Ich wünsche nicht mit
Dir zu sprechen, laß mich meinen Weg gehen!" sagte sie.
Hugo machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten. Er
stand vor ihr mit niedergeschlagenen Augen, das kranke
Bein tief gebogen.
„Ich komme, Dir Lebewohl zu sagen," sprach er ruhig,
„komme, Dir zu sagen, daß wir uns nie Wiedersehen
werden!"
„O, wären wir doch für immer von einander geschie-
den, bevor wir uns das letztemal trafen," antwortete
Greta lebhaft.
„O, hätten wir uns doch nie gesehen!" gab Hugo
mit leiser Stimme zurück.
„Das war eine Lüge, durch die Du mich von meinem
Manne trenntest, gestehe eS!"
„Ja —Gott vergebe mir!"
„Und Du wußtest, daß es eine Lüge war?" sagte
Greta.
„Ja, ich wußte es!"
„Wo ist dann Dein Schamgefühl, daß Du mir noch
ins Gesicht sehen kannst? Oder hast Du keines?"
„Und Du, hast Du kein Mitleid?" sagte Hugo.
„Welches Mitleid hast Du für mich gehabt? Hast
Du mir nicht schon genug Leids angethan?"
„Das ist wahr, Gott weiß es! Er weiß aber auch,
wie elend ich bin. Habe Mitleid und vergib — und sage
mir Lebewohl!"
Etwas wie tiefe Reue in seiner Stimme rührte sie.
Sie schwieg.
„Der Priester ist im Irrtum," fuhr Hugo fort, „es
gibt keinen Geist des Bösen. Wir werden durch unsere
eigenen Leidenschaften verführt, und die mächtigste dieser
Leidenschaften ist die Liebe."
„Es ist Dein Werk, daß ich hier bin!" sagte Greta.
„Wollte Gott, es wäre mein Werk auch, daß Du hier
bliebest!"
„Das ist ein Gebet, das der Himmel nicht erhören