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Töne einer Orgel und die vollen Stimmen eines Gesang-
chores. Die milden Harmonien schienen in Pauls und
Gretas zerrissene Herzen zu fließen, und sie weinten.
„Lebe wohl, mein Liebling!" flüsterte Paul, aber selbst
bei diesen Worten umschlang er sie noch fester.
„Lebe wohl für jetzt, mein lieber Mann!" sagte Greta
lächelnd.
„Wer konnte denken, daß solches Leid Dich schon an
den Stufen des Altars erwarten sollte!"
„Ein einziger Tag wird alles Leid in Freude ver-
wandeln!"
„An der Schwelle unseres gemeinsamen Lebens von
einander getrennt zu werden!"
„Denke nicht mehr daran, mein Liebster! Unser Lebens-
weg wird nur Heller sein nach diesem Mißgeschick. Er-
innerst Du Dich, was Onkel Christian sagte: ,Das hellste
Leben ist nicht immer das, welches stets Sonnenschein hat,
sondern vielmehr dasjenige, welches auch einmal von einer
dunklen Wolke bedroht war, die dann verschwand?'"
Paul schüttelte den Kopf. „Meine Lippen sind ver-
siegelt, Du weißt nicht alles. Es ist eine abscheuliche
Lüge, welche uns trennte — aber was dann, wenn sie nicht
widerlegt werden kann?"
Gretas Augen wurden strahlender, hosfnungsfreudiger.
„Sie kann und wird widerlegt werden!" sagte sie.
Paul senkte den Kopf und berührte ihre Stirne mit
seinen Lippen.
„Die Vergangenheit ist Schweigen, das keine Ant-
wort gibt!" sagte er. „Meine Mutter allein könnte sie
widerlegen und sie ist tot für die Welt."
„Nicht Deine Mutter allein, mein Liebster, — ich kann
sie widerlegen. Warte, und Du wirst es sehen."
Paul lächelte ungläubig und schüttelte den Kopf.
„Du weißt nicht alles!" sagte er und küßte sie zärt-
lich. „Was dann, wenn morgen und Tag um Tag kein
Licht dies Geheimnis aufhellt?"
„Fürchte das nicht, der Finger Gottes ist darin!"
sagte Greta.
„Sage lieber, die Hand des Verhängnisses, und wie
klein sind wir gegenüber dieser erbarmungslosen Gewalt."
„Gott sieht alles," sagte Greta, „er hat mich hieher
geführt und wird mich auch wieder hinausführen!"
„Was dann, wenn ich Dich hieher gebracht habe für
einen Tag, und Du ein Jahr lang, Dein Leben lang hier
bleiben solltest?"
„Dann denke, daß Gott selbst Dein Weib aus Deiner
Hand genommen hat!"
Pauls Gesicht, welches tiefe Niedergeschlagenheit ge-
zeigt hatte, nahm den Ausdruck unsäglichen Schmerzes an.
„O, es ist schrecklich!"
„SM! Hier ist alles Friede! Lebe wohl, teuerster
Paul; sei tapfer, mein lieber Mann, Gott wird's wenden!"
„Das wolle er! Aber ich zittere davor, nach der
Wahrheit zu fragen, die Zukunft ist jetzt nicht schrecklicher
für mich als die Vergangenheit!"
„Sei standhaft, lieber Paul; Du weißt, wie schön es
ist, inmitten eines Srurmes, der die Bäume niederbeugt,
einzuschlafen und in der Ruhe im Sonnenschein zu er-
wachen. Morgen wird die Falschheit entlarvt sein und
Du wirst kommen, um mich abzuholen."
„Ja," sagte Paul, „oder mein Leben als ein Aus-
gestoßener durch die Welt schleppen!"
„Nein, o nein! Lebe wohl, Teuerster!" Dann fehlten
ihr die Worte des Trostes und sie ließ ihren Kopf an
seine Brust sinken.
Der Chor sang die Morgenmesse, Paul hob den eisernen
Riegel auf, der die Thür verschloß, und öffnete sie. Die
gegenüberliegende Seite der Straße war durch eine kahle
Mauer gebildet, über welche blattlose Aeste hoher Bäume
hervorragten. Von der Ferne her ertönte das Geräusch
des erwachenden Lebens. Die Dämmerung hatte den öst-
lichen Himmel gerötet und die dunklen Mauern der Kloster-
türme ragten empor in den lichten Strahlenglanz des
jungen Tages.
„Es ist ja sicher, daß niemals die Sonne über diese
alte L-tadt aufgeht, ohne irgend jemand zu neuem Kummer
zu erwecken," sagte Paul, „aber unser Los ist gewiß das
traurigste von allen. Lebe wohl, mein Liebling!"
„Du wirst bald wiederkommen, mich abzuholen, nicht
wahr?" Und Greta schmiegte sich inniger an seine Brust.
„Wenn nicht — wenn nicht," — sein heißer Atem traf
ihre Stirne — „wenn nicht, dann — da die Welt tot ist
für jeden von uns ohne die Liebe des andern, so bleibe
hier in diesem Haus — für immer! Lebe wohl! Lebe
wohl!"
Er machte sich aus ihren Armen los und drückte seine
zitternden Lippen auf ihre kalte Stirne. Die Angst über-
wand endlich ihr tapferes Herz, ein Thränenflor verhüllte
Paul ihren Augen.
„Lebe wohl, lebe wohl!"
Ein kurzes Schweigen, ein gebrochenes Schluchzen,
ein schwerer Seufzer, ein letzter Druck der verschlungenen
Hände, dann schloß sich die Thür hinter ihm. Sie war
allein in der leeren Halle, ihre Lippen waren kalt, ihre
Augen geschlossen. Das rosige Morgenlicht durchflutete
jetzt sanft, mild und tröstend die Luft, in welcher die vollen,
heiligen Harmonien des Chores verklangen.
-i-

Illustrirte Welt.

Es war ein vorübergehender, flüchtiger Aerger bloß,
den Hugo empfand, als er sah, daß Paul ihm gegen alle
seine Erwartung entschlüpft war. „Thut nichts," sagte er.
„Es handelt sich nur um einen Tag mehr oder weniger.
Gemacht wird die Sache doch."
„Mir ist nicht leid, daß der Mann fort ist," bemerkte
Drayton sichtlich erleichtert, „nun ist die Sache eben."
„Nur mit dem Unterschied, daß Sie jetzt noch etwas
mehr Gefahr laufen, mein Freund," sagte Hugo.
Drayton warf einen Blick auf ihn, halb Furcht, halb
Argwohn.
„Sie werden doch nicht jemand hieher bestellt haben?
Sie werden doch wohl niemand gesagt haben, daß ich
hier bin!"
„Unsinn! Machen Sie jetzt, daß Sie zu Bett kommen,
und — wenn Sie klug sind, nehmen Sie sich in acht.
Morgen früh wird die Polizei hier sein, sei'n Sic davon
überzeugt!"
„Hier? Morgen früh? Warum?"
„Als sie ihn um seine Adresse fragten, hat er dieses
Haus genannt. Das werden sie nicht vergeßen; Leute
dieser Art vergessen nichts!"
„Sicherlich nicht!"
„Sie haben auch noch für weitere Dinge als Adressen
ein gutes Gedächtnis. Denken Sie einmal nach, ob die
Polizei vielleicht noch andern Grund haben könnte, sich
des Herrn dieses Hauses zu erinnern."
„Machen Sie keine Redensarten!"
„Na — Sie werden es am besten wissen. Also nehmen
Sie sich in acht!"
Drayton knöpfte seinen Rock so weit zu, als der zer-
rissene Kragen es erlaubte.
„Ich weiß schon, was ich thue. Ich lasse mich nicht
abfangen. Diesesmal ist es eine böse Geschichte!"
„Wohin wollen Sie?"
„Fragen Sie mich nicht aus, sage ich."
„Wenn Sie dieses Haus verlassen, so wird man Sie
in vierundzwanzig Stunden am Kragen haben!"
„Bleibe ich hier, so haben sie mich in zwölf. So sind
doch immer zwölf Stunden gewonnen. Ich mache, daß
ich fortkomme!"
Drayton legte die Hand auf die Thürklinke, Hugo
stieß sie weg.
„Ein Dummkopf wie Sie verdient nichts Besseres,
solche Leute müssen kalt gestellt werden!"
Drayton erhob die Faust.
„Verdammt! Ich werde Sie kalt stellen, wenn —
wenn —"
„Lassen Sie das dumme Zeug, es schreckt mich nicht,"
sagte Hugo. „Wie, wenn ich Ihnen zeige, wie Sie den
Folgen Ihrer heutigen Nachtarbeit entgehen können?"
Draytons erhobene Hand sank herab.
„Ich habe nichts dagegen," brummte er. „Wie das?"
„Indem man den andern Mann an Ihre Stelle schiebt."
„Und wo bleibe ich?" fragte Drayton, die Augen in
starrem Erstaunen aufreißend.
„Sie?" erwiderte Hugo und ein kaum merkliches
spöttisches Lächeln kräuselte seine Lippen, „Sie werden in
seinen Schuhen stecken."
Ein widerliches Lächeln flog über Draytons Gesicht.
Er zerrte an dem zerrissenen Kragen mit ruhelosen Fingern,
seine Augen wanderten zur Thüre. Ein kurzes Schweigen
trat ein.
„In seinen Schuhen?" wiederholte er, die Augen-
brauen in die Höhe ziehend, und stand mit offenem
Munde da.
Die alte Wirtin war noch beim Schenktisch beschäftigt
mit Vorbereitungen zum Zubettgehen.
„Nun gute Nacht!" sagte sie. „Paul, Du wirst alles
schließen!"
„Schon recht, Mutter."
Die Wirtin ging, aber von der Treppe herab hörte
man noch ihre geräuschvolle Stimme: „Das arme Ding
— ich sage, sie wird sich noch die Augen ausweinen!"
„Was haben Sie im Sinn?" fragte Drayton.
„Ihn hieher zu schaffen!"
„Wie wollen Sie ihn ausspüren? Er ist doch nach
London gegangen, nicht wahr? Das ist ein zu großer
Heuschober, um darin eine Nadel zu finden," dächte ich.
„London ist kein Heuschober, mein Bester. Es ist ein
Bienenkorb und jede Zelle darin ist numerirt. Beim Ver-
lassen des Bahnhofs von Sankt Pancras nehmen sie ent-
weder ein Cab oder nicht. Wenn sie eins nehmen, so
wird die Nummer an der Pforte vom Wächter notirt.
Durch diese Nummer kann der Kutscher gefunden werden,
er wird wissen, wohin er die Reisenden gebracht hat. Hat
mein Bruder seine Frau irgendwo einquartiert und stch
anderswohin begeben, so wird der Kutscher das auch wissen.
Wenn sie kein Cab nehmen, so müssen sic irgendwo in
der Nähe des Bahnhofs sein, weil es schon spät ist und
die Dame wohl nicht mehr weit gehen kann. Auf diese
Art also sind in dem großen Bienenkorb ihre Zellen für
uns aufzusinden. Das genügt für jetzt. — Wer schläft
in diesem Hause außer Ihnen und dem Mädchen?"
„Niemand als ein Bursche, ein Kellner."
„Wo ist er jetzt? — Zu Bett?"
„Schon seit vier Stunden."
„Wo schläft er?"

„Auf dem Dachboden."
„Sorgen Sie dafür, daß der Bursche Sie nicht siebt.
Auf welcher Seite des Hauses schläft er?"
„Im Giebel an diesem Ende."
„Ist auch am andern Ende eine Dachstube?"
„Ja, eine schlechte."
„Das schadet nichts. Nehmen Sie eine Matratze und
schlafen Sie dort. Und bleiben Sie morgen den ganzen
Tag dort liegen, nehmen Sie Mundvorräte mit, aber keine
Getränke, wohlverstanden! Ich werde zu Ihnen kommen,
wenn die Luft rein ist, und jetzt führen Sie mich in Ihr
Zimmer."
Nach einigen Vorbereitungen gingen die beiden Männer
die Treppe hinauf, indem sie das einzige noch übrige Licht
mitnahmen.
„Geben Sie mir die Kerze, Sie gehen besser im
Dunkeln in Ihre Dachstube hinauf. Hier, stecken Sie
diesen Schlüssel in die Thüre zu der Stube des Mädchens
und schließen Sie sie auf, sie ist jetzt ruhig genug. Scht!
— Nein, es war der Wind. Und denken Sie daran, was
ich Ihnen sagte: der Bursche darf Sie nicht sehen. Und
hören Sie wohl: keine Getränke!"
-X-
Noch war der Tag nicht angebrochen und alles stille
im Haus, als Mercy Fischer geräuschlos die Thüre ihres
Zimmers öffnete und vorsichtig die Treppe hinabstieg. Es
war sehr dunkel im Wirtszimmer und sie hatte kein Licht.
Die Luft war voll von widerlichem Geruch nach Tabaks-
rauch. Sie trug ein kleines Bündel in der einen Hand,
mit der andern suchte sie tastend den Weg an den Wän-
den entlang, bis sie zur Hausthüre kam. Eine schwere
Kette verschloß dieselbe, mit zitternden Fingern machte sie
sie los. Dann zog sie den Riegel zurück, öffnete und lief
in die Finsternis hinaus, die Thüre weit offen stehen
lassend.
Bis zum letzten Tage ihres Lebens vermochte sie nicht
zu sagen, welche Absicht sie in dieser Stunde leitete. Sie
hatte kein Ziel, keinen Zweck vor sich, als ihrem Herzeleid
zu entfliehen, sie wünschte nur auf die Erde sich niederzu-
legen und nichts mehr von all dem Jammer zu wissen.
Aber ihr blindes Mißgeschick trieb sie jenem Riesenbehälter
von Lebensglück und Leid — London — zu.
Sie eilte die Straße entlang, ohne jemals zurückzu-
sehen. Durch die blattlosen Bäume seufzte der Nacht-
wind, die gespenstigen Aeste bewegten sich drohend über
ihrem Kopfe, die Hecken neben ihr nahmen phantastische
Gestalten an. Alle ihre Glieder zitterten, ihre Zähne
schlugen zusammen wie im Frost, ihr Kopf schmerzte, ihre
Füße wollten sie nicht mehr tragen. Dennoch eilte sie
weiter. Die Welt war so grausam gegen sie, wenn sie
ihr nur entfliehen könnte und vergessen — nur vergessen!
Die Dämmerung begann. Feuchter Dunst legte sich
auf ihre Wangen, das weite Marschland war in Nebel
gehüllt, kein Laut zu hören außer ihren eigenen Schritten
auf der Straße. Es war ein trüber Anblick, weder Tag
noch Nacht. Und durch dies öde, graue Nebelreich eilte
ein armes Mädchen mit gebrochenem Herzen dahin, ein
kleines Bündel in der Hand, ein Tuch um die Schultern
geworfen, mit roten, thränenlosen Augen vor sich hin-
starrend.
Der Wind seufzte und stöhnte. Dann und wann fiel
raschelnd ein verdorrtes Blatt vom letzten Jahr mit
drehender Bewegung vor ihr nieder. Trostlos, wie ihr
Herz innen, war die Welt außen.
Mehr und mehr erhellte sich der graue Himmel. Im
Osten erschien ein rosiger Glanz, ein frischer Hauch ging
durch die Natur. Rascher ging sie dahin. Hinter ihr lagen
alle ihre schönen Träume und waren tot, hinter ihr lag
die Liebe, welche ihre Seligkeit ausgemacht hatte, und
auch diese war erstorben. Aus glücklichem Traum war
sie zu kalter Wirklichkeit erwacht.
Sie kam an einen Ziegelofen, welcher abseits von der
Straße stand. Eine Rauchwolke ringelte sich langsam
durch die trübe Luft in die Höhe. Erfroren und ermüdet
trat sie näher und stand einige Minuten bei der Glut.
Aber hinter dem Gebäude hörte sie Schritte näher kommen
und stahl sich furchtsam weg.
Fort, fort — sie wußte nicht, warum? Vorwärts,
vorwärts — sie wußte nicht, wohin?
Endlich war der Tag angebrochen. Im Hellen Licht
des Morgens sank ihr Herz tiefer; das Haar vom Tau
befeuchtet, die Kleider vom Weg beschmutzt, so ging sie
weiter im Strahlenglanz der aufgehenden Sonne.
An einem Kreuzweg las sie: „Nach Kilburn" — weiter-
hin war ein Wald. Die Sonnenstrahlen spielten auf den
Fichtenbäumen und vergoldeten die verwelkten Blätter,
welche noch an einer Eiche hingen. Sie hatte sich jetzt
durch den Lauf erwärmt, aber sie war sehr müde geworden.
Hinter einem Holunderbusch nahe bei der Straße legte
Mercy sich nieder, auf einen Haufen welker Blätter am
Fuße einer starken Birke. Bald entschlummerte sie, fuhr
jedoch ängstlich wieder auf. — Alles war ruhig. — Dann
überwand die müde Natur Furcht und Kummer und
wiegte sie ein in tiefen Schlaf.
Und der Schlaf, welcher Könige und Königinnen aus
uns macht, der milde Schlaf machte das verstoßene Mäd-
chen zu einer Königin der Liebe; und sie träumte von ihrer
! Heimat in den Bergen.
 
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