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^iebLNttiulilkriosigLter Jahrgang.

0. K-ft.

Alullgart. 'I-iprig, Herliir, Hivii.


Leben um Leben. (S. 135.)

Justiz der Seele.
Roman von
Anton Areiherr von Zerfall.
v.
Leichenbegängnis Graf Nikolai Minskys
ging unter zahlrei-
cher Beteiligung des
polnischen Adels vor
sich; der Fall er-
regte großes Auf-
sehen und allgemeine Teilnahme,
nachdem kaum ein Jahr vergangen
war, seit die Nachricht, der vier-
undsechzigjährige Graf Minsky
habe die jugendliche, bildschöne
Gräfin Marciana geheiratet, diese
Kreise in Aufregung versetzte.
Der Eifer, die seit einem Jahre
aus der Well verschwundene Witwe
zu sehen, verbunden mit der Neu-
gierde, Näheres über den auf-
fallenden Unglücksfall zu hören,
dessen unschuldiger Urheber der
ebenfalls in Warschau wohlbe-
kannte Graf Wladimir Torkler
war, lockte wohl mehr Gäste nach
Estrup, als die Trauer um den
alten, infolge seiner zweifelhaften,
mindestens passiven politischen Ver-
gangenheit in den altpolnischen
Kreisen nicht sehr beliebten Grafen
Minsky.
Und Gräfin Marciana sah
wirklich berückend schön aus in
tiefenr Schwarz. Sie verstand es,
in unnachahmlicher Weise eine
würdige Trauer, die ihrem Alters-
verhältnis zu dem Verstorbenen
entsprach, nichts Uebertriebenes,
gemacht Sentimentales an sich
hatte, mit einem liebenswürdigen,
der Vornehmheit ihres Standes
angemessenen Entgegenkommen zu
vereinigen, daß die Männer über
die Bewunderung der Lebenden
die Trauer um den Toten fast ver-
gaßen; Elenors tiefgebeugte, lei-
dende Gestalt allein, deren zwie-
fachen Schmerz jedermann zu
würdigen wußte, hielt den düsteren
Charakter einer Totenfeier auf-
recht, die sonst leicht in einen Wett-
kampf der versammelten jungen
Männerwelt ausgeartet wäre um
die begehrenswerte freie Witwe.
Wladimir war nicht anwesend,
er lag schwer krank in Trepan.
,Das fand jedermann begreiflich;
man bedauerte ihn noch mehr als
Elenor. Das Bewußtsein, seinen
väterlichen Wohlthäter, dem er
lles zu danken hatte, wenn auch
noch so unschuldigerweise getötet
zu haben, mußte sein ganzes Leben
vergiften, und dazu noch die ge-

liebte Braut verlieren — eine Heirat war ja doch kaum
möglich unter diesen Umständen, das sah alles ein — das
war kaum zu ertragen.
Marciana sah angegriffener aus, als man erwartete;
ihre Augen waren von durchweinten Nächten gerötet, daS
konnte nicht gefälscht sein; sie mußte den Verstorbenen doch
wirklich geliebt haben, so unwahrscheinlich cS auch war.
Beim Totenmahle brachte sie zum allgemeinen Erstaunen

die Sprache energisch auf die Politik. Sie erfülle nur
den Wunsch des Verstorbenen, wenn sie die heutige Ver-
sammlung der ganzen Aristokratie der Umgebung "dazu
benütze, eine gegenseitige ernstliche Vereinbarung herbei-
znführen, wie weit man sich der Bewegung, die aller-
orten beginne, anschließen wolle. Zu diesem Behufe sei
ja die verhängnisvolle Jagd eigentlich angcsetzt worden,
sein unschuldiges Blut soll wenigstens nicht ganz vergeb-
lich geflossen sein. So sehr auch
die schöne Patriotin alte, längst
vergessene Gefühle in jeder Män-
nerbrnst wieder wach rief, ihre
Worte fanden doch keinen warmen
Widerhall, es fehlte alles Ver-
trauen auf Erfolg. Die Ueber-
macht des Feindes sei zu groß, eine
Organisation bei der allgemeinen
Ueberwachung kaum möglich, was
anno 1832 nicht gelingen konnte,
sei jetzt ganz unmöglich. Außer-
dem, wer sollte sich in diesen Be-
zirken an die Spitze der Bewegung
stellen? — Man sah sich gegen-
seitig fragend an, keiner wollte
davon etwas wissen. Gras Wladi-
mir Torkler von Trepan, war die
allgemeine Meinung, sei die einzig
geeignete Persönlichkeit, seinem
Namen zufolge, der noch vom
letzten Aufstande her einen guten
Klang habe, und seines patrioti-
schen Feuers halber — doch der
wird jetzt nichts davon wissen
wollen.
Marciana stieg das Blut zu
Kopfe bei Nennung dieses Namens,
sie empfand, so sehr sie sich da-
gegen sträubte, eine wilde Freude,
einen unbegreiflichen Stolz, daß
gerade er genannt wurde, und
machte doch der Versammlung
gegenüber ihre höhnischen Bemer-
kungen: ob der Graf Torkler der
einzig fähige unter ihnen sei, ob
von ihm allein das Heil Polens
abhängig sei. Da zählte man ihr
all die Eigenschaften auf, die ihn
gerade besonders geeignet erscheinen
ließen, die erste Rolle zu spielen.
Seine auffallend schöne, echt
nationale Erscheinung, was beim
Bauernvolke alles bedeute, sein
rücksichtsloser Mut, sein Patriofi-
sches Feuer, seine Rednergabe, sein
Name, der die Bluttaufe empfan-
gen habe bei Glochow — jeder
wußte einen andern Vorzug. Im-
mer glänzender, immer verführe-
rischer trat Wladimirs Bild vor
Marcianas Seele, gemalt in den
sattesten Farben von vielen ge-
schäftigen Pinseln, doch nicht lange
konnte sie sich seines Anblickes
freuen, da schimmerte durch all
das strahlende Geflunker ein an-
deres hindurch in häßlicher Leichen-
farbe, mit entstellten Zügen, aus
denen die Schuld sprach — sein

Jllustr. Welt. 1889. s.

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