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3. Oest.

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Justiz dev Seele.
Roman von
Anion Areiherr von Serfass.
m.
ls Wladimir den andern Morgen, matt, mit
schwerem Kopfe, erwachte, und, erst an seinen j
beschmutzten
Kleidern hin-
absehend, sich
allmälich alles zurecht
legte, war er zweifel-
haft, was thun.
In Trepan erwartete
ihn Alona; es war seine
Dienerin, er brauchte
ihre Vorwürse nicht an-
zuhören, trotzdem fürch-
tete er sie. In Estrup
war für ihn eine Hölle.
Mit welchen Lügen auf
den Lippen trat er vor
Elenor! — Elenor?
Sonderbar, er liebte sie
noch immer ebenso wie
früher, ohne alle Be-
gierden, mit so beseligen-
der Ruhe, nur der Ge-
danke daran war ein
kühlendes Bad für seinen
verbrannten, schmerzen-
den Leib. Ja, was ist
denn dann diese lodernde
Glut in seinem Innern,
die so schmerzt und doch
so süß ist, die alles ver-
sengt, außer gerade diese
Liebe zu Elenor? —
Auch Liebe? Gibt es
denn zwei Arten von
Liebe, etwa eine himm-
lische und eine höllische,
und kann man denn zwei
Wesen zugleich damit
lieben? Unmöglich! Sie
müßten sich bekämpfen,
die Tochter des Lichts
und die Tochter der
Finsternis, bis zur Ver-
nichtung. „Nur eine gibt
es!" rief es in seinem
Innern, „und die hast
du nicht gekannt, die da
herniederfährt wie der
Blitzstrahl in die Men-
schenbrust, so sinnlos, so
prächtig, so titanenhaft,
die wie dieser alles zer-
schmettert, jeden Wider-
stand, jede Schranke
bricht, jedes Meuschen-
wcrk höhnt in ihrer All-
gewalt — der Triumph
der jede Fessel sprengen-
den, ihres Zweckes be-

wußten Natur!" Alles andere ist nur das Resultat der
Gewöhnung, ererbten menschlichen Gemeinsinns, zufälliger
Lebensgestaltung, Sache des Gemütes, der Dankbarkeit,
nur zu oft der Selbstsucht.
Elternliebe, Gefchwisterliebe, Freundschaft — eine
Himmelsgabe, ein frischer, labender Quell auf dürrem
Kampfplatz des Lebens, während sie, die Göttliche, die
Oriflamme ist, die, über den ganzen Erdball ihren Glut-
schein werfend, zu heißem Kainpf die todesmutigen Streiter
anspornt — und Kampf ist Leben!

Tie Lisi. Gemälde von Franz Tefregger. (S. 58.)

Hie Elenor! Hie Marciana! — Jetzt war ihm klar,
warum er erstere immer noch ebenso liebte — das war
sie ja geblieben, als was er sie liebte — seine Schwester,
die Genossin seiner Jugend, der frische, labende Quell
auf dem dürren Kampfplatz des Lebens! — Je mehr er
davon überzeugt war, um so mehr schmerzte ihn ihr
Schicksal, das sie noch nicht ahnte, um so bittereren Vor-
wurf machte er dem Vater, der aus selbstsüchtigen, klein-
lichen Gründen diese furchtbare Täuschung in ihnen groß-
gezogen. Und der bittere Vorwurf säugte den jungen
Drachen „Haß" in sei-
ner tiefsten Hcrzcnshöhle,
den sein eigener Bruder
„Neid" blutschänderisch
erzeugt.
Er blieb in Estrup.
Die heutige Nacht nahm
ihm die letzte Kraft zur
Flucht. Er hielt sich
stark genug, das ihm
durch ein böses Geschick
auferlegte Schicksal zu
ertragen, ohne von der
Bahn der Ehre abzu-
weichen, und zum Lohn
für diese Standhaftig-
keit, die vorderhand nur
in seiner Einbildung be-
stand, glaubte er sich
wenigstens den Anblick
der in Wahrheit Gelieb-
ten gönnen zu dürfen,
mit dem er sich zufrie-
den geben wollte.
Die Gräfin ließ sich
den Tag über nicht sehen.
Elenor trat ihm mit der-
selben Unbefangenheit
entgegen wie immer.
Ihre Sorgfalt für die
kranke Marciana that
ihm weh; er schwor sich
von neueni im stillen,
dieser Engel sollte nie
etwas erfahren von den
Stürmen in seinem In-
nern. Von ihr erfuhr
er, ohne daß er darnach
fragte, alle Einzelheiten
über Marcianas Zu-
stand. Sie Halle sich
beim Sturze nur wenig
am Fuße verletzt, das
schwere Fieber, in das
sie in der ersten Nacht
verfiel, war wohl mehr
durch die übergroße
Angst und Aufregung
veranlaßt; sie könne stun-
denlang weinen, erzählte
Elenor, ohne einen rech-
ten Grund dafür angcben
zu können. Der Graf
war ernst, aber freund-
lich, er sprach kein Wort
betreffs der Heirat, die
er gestern so energisch
verlangt, und doch kam

Jllustr. Welt. I88S. z.

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