Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext


drängten, nimmer ruhenden Po-
len Partei nahm, und so die jeweilige
Regierung zwang, oft wider ihren Willen
für die polnischen Interessen einzutreteu,
sondern barg auch in seinen Mauern
stets die besten, aber auch die unruhig-
sten Elemente Polens, Männer, die, ihr
Leben dem Phantom eines freien Polens
opfernd, eine langjährige arbeitS- und
gefahrenvolle Schule des Aufstandes durch-
gemackt, die in der geheimen Minirarbeit
der Klubs ebenso bewandert waren als
in der Organisirung eines bewaffneten
Volksaufstandes, wie in der Führung
eines tollkühnen, eigenartigen Kampfes
einer kleinen begeisterten Schar gegen
mächtige reguläre Armeen. Um sie sam-
melten sich die Scharen Ausgewiesener,
Flüchtiger, die jährlich Polen verließen,
und bildeten eine von Haß gegen die
Fremdherrschaft erfüllte, nimmer ruhende
Nevolutionsarmee, die, was ihr au
numerischer Kraft fehlte, durch ihre hohe
Intelligenz und Verschlagenheit zu ersetzen
wußte. Die Verbindung mit dem Vater-
laude war so vortrefflich hergcstellt, daß
jeder erhöhte Pulsschlag Polens in Paris
fühlbar war, dagegen ebenso schnell wie
von einem Gehirnzentrum aus die ent-
sprechenden Anordnungen auch den einzel-
nen Gliedern des Volkskörpers übermittelt
wurden.
Im Januar des Jahres 1863 herrschte
eine fieberhafte Aufregung in diesen Krei-
sen, welche der französischen Regierung
nicht entging; man kannte dort nur zu
gut die Bedeutung derselben aus alter
Erfahrung, und da gerade damals die
diplomatischen Beziehungen mit Rußland
die besten waren, warnte man, unbeküm-
mert um Sympathie oder Antipathie des
Volkes für die Sache, an geeigneter
Stelle und ließ durchblicken, daß einer
geheimen Ueberwachung dieser Bewegung
innerhalb Paris von feiten Rußlands in
keinem Falle ein Hindernis entgegen-
gesetzt werden soll. Es war dies ein
kleiner diplomatischer Freundschaftsdienst,
der ja weiter keine Konsequenz hatte und
für den man einst eine Gegcngefälligkeit
verlangen konnte. Die Folge dieser War-
nung war die Ankunft russischer Geheim-
polizisten, die sich eine Berühmtheit in
ihrem dunklen Fache erworben; hatten
sie auch nicht das Recht, eine Verhaftung

VI.
aris spielte in allen polnischen Aufständen

Justiz dev Seele
Roman
von
1s Anion Areiherr von Werfall.

eine
Rolle. Nicht nur, daß das Pariser Publikum
sZs selbst aus verschiedenen Gründen, die durchaus
-7^ nicht alle politischer Art waren, für die be-

ben Namen des seit einem Jahr in Paris lebenden Grafen
Torkler aus Trepan.
„Ein leichtsinniger, lebenslustiger Kavalier, dessen
Verschwendungssucht an Wahnsinn grenzt, dem Spiele,
den Weibern, allen Leidenschaften ergeben, dabei infolge
seiner Freigebigkeit, seines glänzenden Auftretens der Lieb-
ling des Publikums, besucht zwar hie und da den pol-
nischen Klub in der Rue Vivienne, aber nur der Unter-
haltung, des hohen Spieles wegen, welches dort getrieben.
In politischer Beziehung vollständig ungefährlich, denkt
nicht daran, Paris zu verlassen; ohne Verbindung mit
dem Vaterlande." — So lautete das Protokoll über den
Grafen Wladimir Torkler, und es war durchaus richtig.
Mau war in Paris an Ausländer, die
es toll trieben, gewohnt, und die Polen
spielten darin von jeher eine Rolle, aber
mit Graf Wladimir Torkler konnte sich
an Tollheit keiner messen, er setzte selbst
das blasirte Paris in Erstaunen. Das
vornehmste, aber zugleich abenteuerlichste
Gespann, das die Champs Elysses entlang
rollte, war das des Grafen Torkler; sein
Name fehlte selten in den Zeitungsberich-
ten, sei es, daß es eine tolle Wette
galt, einen auffallend hohen Spielverlust,
einen Sturz vom Pferde, eine neue
Liaison mit irgend einem Stern der
Pariser Genußwelt, eine zu Thränen
rührende That der Barmherzigkeit, echter
Großmut, ausgeführt in irgend einem
Winkel von Paris, an das Licht gezogen
von irgend einem findigen Reporter. Und
bei all dieser Genußsucht und Lebens-
tollheit dieser ernste, fast düstere Gesichts-
ausdruck des schönen Polen, dessen Grund
niemand erraten konnte! Er war das
einzig Verdächtige, das die obenerwähn-
ten Agenten an ihm entdecken konnten.
Dieser schmerzliche Zug in seinem Antlitz
inmitten aller Lebensfreude konnte ja dem
Vaterlande gelten, und das wäre ja schon
der Anfang gewesen zum Verbrechen.
Doch bald glaubten sie sich überzeugt zu
haben, daß der Grund wo anders läge:
in der allgemeinen Pariser Krankheit, der
Uebersättigung an Genuß, die dieselben
Falten zieht als das schwerste Herzleid.
Eine Gewohnheit des Grafen erregte
Aufsehen. Er fuhr ein volles Jahr zu
jeder Jahreszeit nach Nizza — das mußte
doch einen andern Zweck als das Ver-
gnügen haben, da ja sein Aufenthalt
jedesmal nur einen Tag betrug. Selbst-
verständlich wurde er scharf beobachtet,
da aber seine ganze Thätigkeit nur in
dem Studium der Fremdenlisten sämt-
licher Hotels bestand und er mit niemand
dort verkehrte, gab man auch hierin jeden
Verdacht auf; zuletzt konnte er sich rüh-
men, von all seinen Landsleuten am
wenigsten durch die Spionage belästigt zu
sein.
Er war wirklich nicht gefährlich, Graf
Wladimir, der Mann ohne Vaterland,
ohne Heimat, wie er sich bei seinem
Abschied zu Estrup genannt. Was küm-
merte ihn Polen? Er wollte den Nameii
nicht hören, er gab sich ja seit einem

vorzunehmen, so war es doch für die russische Regierung
von höchster Bedeutung, die Namen der Beteiligten zu
erfahren und womöglich einen Einblick in ihre Pläne zu
bekommen. Die Folge davon war wiederum die vermehrte
Vorsicht und Wachsamkeit der polnischen Klubs, die in
jedem Neuankommenden unter der Maske des Patrioten
den Polizeimenschen vermuten mußten. Trotzdem hatte
man in Petersburg binnen kurzem die ganze Charakteristik
der in Paris anwesenden polnischen Aristokraten. Sic
lautete durchgängig höchst staatsgefährlich, sie brachte jeden
Namen auf die Proskriptionsliste.
Nur über einen polnischen Namen lautete das amt-
liche Urteil äußerst günstig und höchst unschuldig — über

Die Martinsgans. Zeichnung von G. Miksch.

Jllustr. Welt. I88S. 7.

21
 
Annotationen