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ihr zuwider war, Das einfachste, natürlichste Recht
der jungen Mädchen war ihr in einer Weise ver-
kümmert und vernichtet, daß sic lieber alle Not und
Sorge, alle Entbehrungen und Demütigungen ertragen
wollte, wenn sie nur ihr freies Selbstbestimmungs-
recht wieder zurückerhielt. Noch war ihre Natur rein
und gesund, noch hatten die erzieherischen Bemühungen
der Missis Badsley keinen Erfolg, eher war sogar
der Fall, daß durch die gewaltsamen Mittel, mit
denen man ihre Neigungen zu beherrschen suchte, ihre
natürlichen Empfindungen geweckt, die Liebe zu
Will, die bis dahin nur in ihr geschlummert, zu
leidenschaftlicher Heftigkeit angefacht wurde. Ihr
ganzes Wesen geriet bei diesem Kampf in Aufruhr.
Sie wollte keincu anderen als Will und keinen sonst,
wenn es dieser nicht war. Niemand in dieser Welt
sollte sic berühren. wenn nicht Will, trotz Missis
Badsley und trotz ihrem Vater und seiner Würde,
seiger Hochachtung und trotz aller Welt.
„Wohin wünschen Sie zu fahren, meine Beste?"
flötete Missis Badsley mit ihrer zuckersüßen Stimme.
„Es ist mir gleichgültig," erwiderte Anny.
„Gut. Fahren Sie also Picadilly hinauf, Kutscher."
„Dort wird neu gepflastert, Madam," antwortete
der Kutscher
„Ei, so fahren Sie meinethalben, wohin Sie
wollen, nur nicht nach Regentpark."
So gescheit wie Missis Badsley war Anny auch.
Sie wußte jetzt, daß der Kutscher- nach dem Strand
fuhr. Sie gab ihm von Zeit zu Zeit einen Schilling,
aber immer nur, wenn er sic »ach dem Strand fuhr.
Der Kutscher, der auch nicht auf den Kopf gefallen
war, merkte natürlich rasch, um was sich's handelte.
Häufig sah sie hier Will, wenn er aus der Buch-
handlung, in der er augestellt war, kam oder dahin
ging, und da cs doch einmal nicht anders war, so
begnügten sich beide damit, sich von weitem zu sehen
und verstohlene Zeichen zu machen.
Heute aber wollte sich Auuy damit nicht begnügen,
und als sie au dem Laden vorüber fuhr, rief sic dem
.Kutscher zn, daß er halten möge.
„Aber meine Beste —" bemerkte Missis Badsley
bedenklich.
„Was beliebt? Ich werde mir doch wohl eine
neue französische Grammatik kaufen können?"
Dagegen konnte Missis Badsley schlechterdings
nichts einwendcn, und wenn sic es auch getan hätte, so
war sie doch überzeugt, daß es nichts genützt hätte.
Aber daß die neue Grammatik gerade hier und ge-
rade jetzt und persönlich gekauft wurde, das war ver-
dächtig. Missis Badsley folgte also Auuy in dcu
Laden. Richtig — da standen sic auch schon zu-
sammen, Will und Anny. Missis Badsley wäre
sofort in Ohnmacht gefallen, aber es war dazu jetzt
durchaus keine Zeit. Die beiden hätten sich vermut-
lich gar nicht darum gekümmert und sic ruhig liegen
lassen. Jetzt galt es im Gegenteil, die Augen offen
zn halten und auf der Hut zn sein.
„Diese?" fragte Anny ruhig und gleichgültig, als
ob sich's wirklich nur um eine neue Grammatik
handele.
„O, cs sind noch andere da, Madam. Sic können
wählen." antwortete Will, indem er tat, als ob er
die Dame noch nie in seinem Leben gesehen.
„Ich wünsche eine, die recht praktisch ist, Sir,
wo ich nicht so viel auswendig lernen mnß. Können
Sie mir eine solche empfehlen?"
„Nehmen Sie diese, Madam. Ich hoffe, sie wird
Ihnen gefallen."
Missis Badsley paßte ans, als ob sic die beiden
ermorden ivollc. Ganz sicher waren dies abgekartete
Geschichten, und hinter den gleichgültigen Redensarten
verbarg sich irgend welch tieferer Sinn, wenn nicht
gar in dem Buch selbst geheime Verständigungszcichen
oder briefliche Mitteilungen von Hand zn Hand
gingen. Jedenfalls sah Missis Badsley die neue
Grammatik mit sehr mißtrauischen Augen an und
nahm sich eine genaue Durchsuchung vor.
„Wenn sie mir nicht gefällt, kann ich sie Um-
tauschen, nicht wahr?" fragte Miß Anny wieder.
„Jederzeit!" antwortete Will.
„Bezahlen Sic, Missis Badsley. Auf Wieder-
sehen, Sir."
„Adieu, Madam."
Ohne sich weiter um Missis Badsley zu beküm-
mern, verließ Anny freundlich grüßend den Laden
und nahm das Buch mit. Missis Badsley warf die
paar Schillinge, die es kostete, eilig hin, ließ sogar
den Rest von acht Pence, den sie wieder znrückbekam,
auf dem Ladentisch liegen und eilte ihrem Schützling
nach.
„Sie wollen sich doch nicht etwa selbst mit dem
Buch belästigen, meine Beste?" flötete Missis Bads-
ley süß. „Bitte, lassen Sic es mich tragen."
„Wie dürfte ich Ihnen so etwas znmnten? Ich
werde es selbst tragen."
„Man darf es wohl sehen?"
„Ja, später."
Jetzt war Missis Badsley fest überzeugt, daß in
dem Buch geheime Verständigungen zwischen den
beiden, ein Brief oder ähnliches, enthalten sei. Wie
schlau das eingefädelt war! Missis Badsley war
über ihre Schutzbefohlene erstaunt. Wer hätte Anny
noch vor wenig Wochen solche Findigkeit und Ver-
schlagenheit zugetraut? Das waren ja merkwürdige
Erziehungsresultate. Was mochten die beiden mit-
einander abmachen? Geheime Zusammenkünfte?
Zärtlichkeiten? Flucht? Das konnte ja nett werden,
dachte Missis Badsley. Was hatte sie im Hause
van Elverdaal noch zu tun, wenn nichts mehr zu
erziehen da war? Eine siedende Augst überlief die
tugendhafte Dame. Und wenn es ihr anch heute
noch gelang, hinter die Verschwörung zu kommen,
tonnten die beiden Intriganten in ihrer unerschöpf-
lichen Erfindungsgabe nicht morgen oder in acht
Tagen oder in einem Monat wieder eine neue Falle
ausgeklügelt haben? Wer sollte hinter all die Spitz-
findigkeiten zwei verliebter junger Leute kommen?
Missis Badsley mußte sehr ans der Hut sein,
denn cs stand für sic viel ans dem Spiel.
„Was habe ich verbrochen, meine süße Anny,"
begann sie nach einer Pause im Weitcrfahreu mit
vorwurfsvoller Wehmut, „daß Sie mich Ihres Ver-
trauens beraubt haben? Bin ich Ihnen nicht immer
mehr Freundin als Lehrerin, mehr Mutter als Auf
passeriu gewesen, für die Sie mich jetzt wohl anscheu?"
Auuy sah sie verblüfft an.
„Sagen Sie lieber nichts," fuhr Missis Badsley
sanft und windelweich fort, „denn Sic würden mir
doch nur unrecht tun. Mein Gott im Himmel, was
will ich denn weiter, als daß alles einen guten
Schliff hat, daß alles hübsch und korrekt aussieht.
Glauben Sie denn, mein süßes Kind, ich wollte mich
in all Ihre kleinen Geheimnisse eindrängcn? Gott
behüte. Weiter fehlte mir nichts. Was man nicht
weiß, macht nicht heiß. Was kümmcrt's mich, ob
Sie sich hundert Grammatiken anschaffen, Umtauschen,
durchblättern uud wieder hiutragen! lind immer in
demselben Laden! Ich war anch einmal jung, liebste
Anny, und weiß, was das heißt Wenn Ihnen ein
anderer junger hübscher Manu besser gefällt als
Marquis Gaston — nun, was tut's? Das ist sein
Pech. Was geht das uns an? Es kommt nur
darauf an, daß alles hübsch und korrekt anssieht.
Wenn Sie oder irgend eine andere junge Dame ans
der guten Gesellschaft eine standesgemäße Ehe ein z
gehen, glauben Sie denn, daß das allemal der ist, der
der jungen Dame am besten gefällt? Ist ja gar !
kein Gedanke daran. Glauben Sie denn, der Mar
quis sperrt Sic in ein Kloster, wenn Sic ihn heiraten?
Oder glauben Sie, eine andere junge Dame würde
unter ähnlichen Umständen in ein Kloster gesperrt? -
Nun freilich — weiter fehlte nichts. Man kann in
ver guten Gesellschaft nicht immer heiraten, wen
man liebt, mein Engel, und man liebt auch nicht
immer, wen man heiratet. Das läßt sich alles mache»
Die Hauptsache ist, daß alles korrekt anssieht und
nichts— ich will sagen nichts Geschmackloses vor- j
kommt. So will's die gute Gesellschaft, mein süßes
Herz. Also, wenn Sie kleine Geheimnisse haben,
teuerste Anny, meinen Segen dazu. Ich will sic
nicht wissen. Nur — erscheinen Sic äußerlich korrekt,
wie es die gute Gesellschaft verlangt!"
„Ich habe keine Geheimnisse, Missis Badsley,"
erklärte Anny hochrot vor Zorn, „wever kleine noch
große, weder vor Ihnen noch vor irgend wem. Ick,
bitte, mich mit solchen Reden-Zarten zn verschonen."
„Und das Buch? Ich meine die Grammatik!
Aber ich will nichts wissen, mich nicht eindrängcn "
„Da ist daS Buch," rief Anny erregt und warf
> ihr die Grammatik in den Schoß, „blättern Sic cs
durch, lesen Sie Buchstaben für Buchstaben, und
wenn Sic dabei auch nur die Spur von etwas Ver-
dächtigem finden, so will ich meinetwegen das sein,
für das Sie mich halten. Pfui!"
Missis Badsley fand nichts, nicht das geringste.
Und sic hätte doch darauf schwören mögen, daß etwas
mit dem Buch sei. Sie konnte sich eben bei ihren
Begriffen von der guten Gesellschaft eine so reine
goldklarc Natur, wie Anny war, nicht denken
„Ich mußte es ja, mein teures Goldkind,"
heuchelte sic, „glauben Sic wirklich, ich hätte einen
Verdacht gehabt? O wie schlecht kennen Sic mich
Aber ich wollte den Beweis Ihrer Reinheit und
Ihres Edelsinns. Meine Gewissenhaftigkeit, mein
Verantwortlichkeitsgcfühl verlangte ihn. Ich will
ans der Stelle sterben, wenn ich Ihnen mißtraut
habe. Aber ich mußte den Beweis haben, Anny, nm
- anch anderen gegenüber treu und fest zu Ihnen stehen
zu können."
Anny sagte nichts mehr.
Am gleichen Tage noch wurde sic Zeugin einer
Szene, die sehr geeignet war, neue Angst nnd Un-
j ruhe in ihr Gemüt zu werfen.
Sie hörte beim Essen, wie der Rechtsanwalt
I Linning zu ihrem Vater sagte: „Es ist das wahn-
witzigste, was ich jemals in Rcchtshändcln gehört
habe. Die Marquise hat jetzt, nach fast einem Jahr,
die Ausgrabung der Leiche ihres Gatten bei den
Pariser Gerichten beantragt."
„Die Marquise d'Aigre?" fragte Elverdaal. „Und
weshalb?"
„Sie begründet die Forderung mit dem Verdacht,
daß ihr Gatte nicht im Grabe ruhe, überhaupt gar
nicht gestorben sei. Sie macht sich anheischig, einen
Zeugen zn bringen, der ihren Gatten nach seinem
angeblichen Tode in London gesehen habe nnd die
Öffnung des Grabes soll nur stattfiuden, diesen Ver-
dacht entweder zn bestätigen oder zu widerlegen."
„Lächerlich. Tie Marquise hat also den Verstand
verloren."
„Das scheint so. Es kann aber auch sein, die
Sache verhält sich anders. Es kann sein, daß die
Marquise es noch immer nicht aufgegeben hat, ein
Auge auf die ihr entgangene Erbschaft oder doch
einen Teil davon zn werfen. Sic greift diese un-
sinnigen Gerüchte auf, die ihr vermutlich ein arm-
seliger hiesiger Winkeladvokat, den ich nut einer an-
geblichen Forderung von fünfhundert Pfund an Eure
Herrlichkeit abgewiescn, bcigebracht hat, weil sie ihr
die Revision des Erbschaftsprozesses in Aussicht
stellen. Wo kein Toter ist, ist auch kein Erbe, denkt
sie und inszeniert die tollsten Hirngespinste, die jemals
erfunden worden sind."
„Und was wird nun geschehen?"
„Tas hängt zunächst von den Entschlüssen des
Pariser Gerichts ab. Gibt dieses den Anträgen der
Marquise nach, so wird das Grab geöffnet."
„Und dann?"
„Je nun, dann kommt es darauf an, was man
findet. Ist alles in Ordnung, wie ja gar nicht be
zweifelt werden kann, so hat die Marquise ihr Gelv
verschwendet."
„Und-nnd-" Elverdaal wollte
offenbar noch mehr sagen, aber seine Kehle war so
trocken, daß er trotz des Würgens nnd Drängens
nichts mehr hcransbrachte.
„Und erweist sich der Verdacht der Marquise als
richtig, so wird sie daraufhin allerdings nicht zögern,
die Nachlassenschaft des Samuel Scheppers, ihres
Gatten, unter gerichtlichen Schutz stellen zu lassen,
bis sich alles geklärt hat," fuhr Linning ergänzend fort.
„Was heißt das: unter gerichtlichen Schutz stellen?"
fragte Elverdaal, indem er melancholisch seine Ser-
viette zusammeurolltc und ans den Tisch legte.
„Sic wird versiegelt," erklärte Linning kurz.
Elverdaal stand plötzlich vom Tisch ans nnd
wandte sich ab. Er war bleich wie ein Toter ge-
worden, nnd anch seine Augen waren starr wie die
eines Toten.
„Aber das ist natürlich alles dummes Zeug," meinte
Linning beruhigend. „Es wird nie so weit kommen.
Die Absichten der Fran Marquise werden sich ver-
mutlich darauf beschränken, einen kleinen oder größeren
Pump bei Eurer Herrlichkeit zn versuchen, eine Er-
pressung oder vielleicht anch —"
Linning brach ab und sah Anny an.
„Was vielleicht anch?" fuhr ihn Elverdaal
heftig an.
„Hm, es kam mir nur eben die Idee, aber cs
wäre wohl nicht unmöglich, daß die Marquise durch
— hm — durch eine Heirat zwischen den beiden
Familien jeden Grund zn einem Prozesse zn beseitigen
strebt, und da sich diese bisher verzögert — ich weiß
nicht anS welchem Grund, denn das liegt außerhalb
meiner Sphäre — aber offenbar gebt cs der Mar-
quise damit nicht rasch genug, oder sic dünkt ikr zu
unsicher, kurz, sie will eine Situation schaffen, welche
eine solche Heirat als praktische Lösung, oder auch
als notwendigen Schluß erscheinen läßt. Aber ich
sage nicht, daß cs so sei, sondern ich sage mir, cs
könnte so sein."
„Ich will aber wissen, wie es ist," polterte Elver-
daal unsicher nnd eigentümlich hastend hervor. Die
Aufregung, in die ihn diese Nachricht versetzt, äußerte
sich so befremdend, daß er einen InlfloS krankhaften
Eindruck machte. Er taumelte bei den unwillkürlichen
Bewegungen, die er machte, wie ein Mensch, der aus
irgend einer Ursache das Gleichgewicht verloren hat,
und doch hatte er ausnahmsweise an dem Tage noch
nicht zn viel getrunken — vielleicht zn wenig, nm in
seiner Gcwobnhcil zn bleiben
„Soviel ist jedenfalls sicher," fahr ter Rechts-
anwalt fort, „daß die Fran Marquise nicht ans
! reiner Sehnsucht nach ihrem Galten dessen Grab
nochmals öffnen lassen will. ES ist im Gegenteil
wohl anznnehmen, daß das materiellere Gründe hat,
! und daß sic alle Register ziehen wird, um sich ans
! ihrer jetzigen ungewohnten und bedrückten Situation
wieder hcranszubclfen."
„Eben diese Gründe will ich wissen," hastete
i Elverdaal wie gequält heraus, „informieren Sie sich,
! Linning. Was Teufel! Bezahle ich Ihnen jeden
1 Monat Ihre verwünschten Spesenrechnungen, damit
ihr zuwider war, Das einfachste, natürlichste Recht
der jungen Mädchen war ihr in einer Weise ver-
kümmert und vernichtet, daß sic lieber alle Not und
Sorge, alle Entbehrungen und Demütigungen ertragen
wollte, wenn sie nur ihr freies Selbstbestimmungs-
recht wieder zurückerhielt. Noch war ihre Natur rein
und gesund, noch hatten die erzieherischen Bemühungen
der Missis Badsley keinen Erfolg, eher war sogar
der Fall, daß durch die gewaltsamen Mittel, mit
denen man ihre Neigungen zu beherrschen suchte, ihre
natürlichen Empfindungen geweckt, die Liebe zu
Will, die bis dahin nur in ihr geschlummert, zu
leidenschaftlicher Heftigkeit angefacht wurde. Ihr
ganzes Wesen geriet bei diesem Kampf in Aufruhr.
Sie wollte keincu anderen als Will und keinen sonst,
wenn es dieser nicht war. Niemand in dieser Welt
sollte sic berühren. wenn nicht Will, trotz Missis
Badsley und trotz ihrem Vater und seiner Würde,
seiger Hochachtung und trotz aller Welt.
„Wohin wünschen Sie zu fahren, meine Beste?"
flötete Missis Badsley mit ihrer zuckersüßen Stimme.
„Es ist mir gleichgültig," erwiderte Anny.
„Gut. Fahren Sie also Picadilly hinauf, Kutscher."
„Dort wird neu gepflastert, Madam," antwortete
der Kutscher
„Ei, so fahren Sie meinethalben, wohin Sie
wollen, nur nicht nach Regentpark."
So gescheit wie Missis Badsley war Anny auch.
Sie wußte jetzt, daß der Kutscher- nach dem Strand
fuhr. Sie gab ihm von Zeit zu Zeit einen Schilling,
aber immer nur, wenn er sic »ach dem Strand fuhr.
Der Kutscher, der auch nicht auf den Kopf gefallen
war, merkte natürlich rasch, um was sich's handelte.
Häufig sah sie hier Will, wenn er aus der Buch-
handlung, in der er augestellt war, kam oder dahin
ging, und da cs doch einmal nicht anders war, so
begnügten sich beide damit, sich von weitem zu sehen
und verstohlene Zeichen zu machen.
Heute aber wollte sich Auuy damit nicht begnügen,
und als sie au dem Laden vorüber fuhr, rief sic dem
.Kutscher zn, daß er halten möge.
„Aber meine Beste —" bemerkte Missis Badsley
bedenklich.
„Was beliebt? Ich werde mir doch wohl eine
neue französische Grammatik kaufen können?"
Dagegen konnte Missis Badsley schlechterdings
nichts einwendcn, und wenn sic es auch getan hätte, so
war sie doch überzeugt, daß es nichts genützt hätte.
Aber daß die neue Grammatik gerade hier und ge-
rade jetzt und persönlich gekauft wurde, das war ver-
dächtig. Missis Badsley folgte also Auuy in dcu
Laden. Richtig — da standen sic auch schon zu-
sammen, Will und Anny. Missis Badsley wäre
sofort in Ohnmacht gefallen, aber es war dazu jetzt
durchaus keine Zeit. Die beiden hätten sich vermut-
lich gar nicht darum gekümmert und sic ruhig liegen
lassen. Jetzt galt es im Gegenteil, die Augen offen
zn halten und auf der Hut zn sein.
„Diese?" fragte Anny ruhig und gleichgültig, als
ob sich's wirklich nur um eine neue Grammatik
handele.
„O, cs sind noch andere da, Madam. Sic können
wählen." antwortete Will, indem er tat, als ob er
die Dame noch nie in seinem Leben gesehen.
„Ich wünsche eine, die recht praktisch ist, Sir,
wo ich nicht so viel auswendig lernen mnß. Können
Sie mir eine solche empfehlen?"
„Nehmen Sie diese, Madam. Ich hoffe, sie wird
Ihnen gefallen."
Missis Badsley paßte ans, als ob sic die beiden
ermorden ivollc. Ganz sicher waren dies abgekartete
Geschichten, und hinter den gleichgültigen Redensarten
verbarg sich irgend welch tieferer Sinn, wenn nicht
gar in dem Buch selbst geheime Verständigungszcichen
oder briefliche Mitteilungen von Hand zn Hand
gingen. Jedenfalls sah Missis Badsley die neue
Grammatik mit sehr mißtrauischen Augen an und
nahm sich eine genaue Durchsuchung vor.
„Wenn sie mir nicht gefällt, kann ich sie Um-
tauschen, nicht wahr?" fragte Miß Anny wieder.
„Jederzeit!" antwortete Will.
„Bezahlen Sic, Missis Badsley. Auf Wieder-
sehen, Sir."
„Adieu, Madam."
Ohne sich weiter um Missis Badsley zu beküm-
mern, verließ Anny freundlich grüßend den Laden
und nahm das Buch mit. Missis Badsley warf die
paar Schillinge, die es kostete, eilig hin, ließ sogar
den Rest von acht Pence, den sie wieder znrückbekam,
auf dem Ladentisch liegen und eilte ihrem Schützling
nach.
„Sie wollen sich doch nicht etwa selbst mit dem
Buch belästigen, meine Beste?" flötete Missis Bads-
ley süß. „Bitte, lassen Sic es mich tragen."
„Wie dürfte ich Ihnen so etwas znmnten? Ich
werde es selbst tragen."
„Man darf es wohl sehen?"
„Ja, später."
Jetzt war Missis Badsley fest überzeugt, daß in
dem Buch geheime Verständigungen zwischen den
beiden, ein Brief oder ähnliches, enthalten sei. Wie
schlau das eingefädelt war! Missis Badsley war
über ihre Schutzbefohlene erstaunt. Wer hätte Anny
noch vor wenig Wochen solche Findigkeit und Ver-
schlagenheit zugetraut? Das waren ja merkwürdige
Erziehungsresultate. Was mochten die beiden mit-
einander abmachen? Geheime Zusammenkünfte?
Zärtlichkeiten? Flucht? Das konnte ja nett werden,
dachte Missis Badsley. Was hatte sie im Hause
van Elverdaal noch zu tun, wenn nichts mehr zu
erziehen da war? Eine siedende Augst überlief die
tugendhafte Dame. Und wenn es ihr anch heute
noch gelang, hinter die Verschwörung zu kommen,
tonnten die beiden Intriganten in ihrer unerschöpf-
lichen Erfindungsgabe nicht morgen oder in acht
Tagen oder in einem Monat wieder eine neue Falle
ausgeklügelt haben? Wer sollte hinter all die Spitz-
findigkeiten zwei verliebter junger Leute kommen?
Missis Badsley mußte sehr ans der Hut sein,
denn cs stand für sic viel ans dem Spiel.
„Was habe ich verbrochen, meine süße Anny,"
begann sie nach einer Pause im Weitcrfahreu mit
vorwurfsvoller Wehmut, „daß Sie mich Ihres Ver-
trauens beraubt haben? Bin ich Ihnen nicht immer
mehr Freundin als Lehrerin, mehr Mutter als Auf
passeriu gewesen, für die Sie mich jetzt wohl anscheu?"
Auuy sah sie verblüfft an.
„Sagen Sie lieber nichts," fuhr Missis Badsley
sanft und windelweich fort, „denn Sic würden mir
doch nur unrecht tun. Mein Gott im Himmel, was
will ich denn weiter, als daß alles einen guten
Schliff hat, daß alles hübsch und korrekt aussieht.
Glauben Sie denn, mein süßes Kind, ich wollte mich
in all Ihre kleinen Geheimnisse eindrängcn? Gott
behüte. Weiter fehlte mir nichts. Was man nicht
weiß, macht nicht heiß. Was kümmcrt's mich, ob
Sie sich hundert Grammatiken anschaffen, Umtauschen,
durchblättern uud wieder hiutragen! lind immer in
demselben Laden! Ich war anch einmal jung, liebste
Anny, und weiß, was das heißt Wenn Ihnen ein
anderer junger hübscher Manu besser gefällt als
Marquis Gaston — nun, was tut's? Das ist sein
Pech. Was geht das uns an? Es kommt nur
darauf an, daß alles hübsch und korrekt anssieht.
Wenn Sie oder irgend eine andere junge Dame ans
der guten Gesellschaft eine standesgemäße Ehe ein z
gehen, glauben Sie denn, daß das allemal der ist, der
der jungen Dame am besten gefällt? Ist ja gar !
kein Gedanke daran. Glauben Sie denn, der Mar
quis sperrt Sic in ein Kloster, wenn Sic ihn heiraten?
Oder glauben Sie, eine andere junge Dame würde
unter ähnlichen Umständen in ein Kloster gesperrt? -
Nun freilich — weiter fehlte nichts. Man kann in
ver guten Gesellschaft nicht immer heiraten, wen
man liebt, mein Engel, und man liebt auch nicht
immer, wen man heiratet. Das läßt sich alles mache»
Die Hauptsache ist, daß alles korrekt anssieht und
nichts— ich will sagen nichts Geschmackloses vor- j
kommt. So will's die gute Gesellschaft, mein süßes
Herz. Also, wenn Sie kleine Geheimnisse haben,
teuerste Anny, meinen Segen dazu. Ich will sic
nicht wissen. Nur — erscheinen Sic äußerlich korrekt,
wie es die gute Gesellschaft verlangt!"
„Ich habe keine Geheimnisse, Missis Badsley,"
erklärte Anny hochrot vor Zorn, „wever kleine noch
große, weder vor Ihnen noch vor irgend wem. Ick,
bitte, mich mit solchen Reden-Zarten zn verschonen."
„Und das Buch? Ich meine die Grammatik!
Aber ich will nichts wissen, mich nicht eindrängcn "
„Da ist daS Buch," rief Anny erregt und warf
> ihr die Grammatik in den Schoß, „blättern Sic cs
durch, lesen Sie Buchstaben für Buchstaben, und
wenn Sic dabei auch nur die Spur von etwas Ver-
dächtigem finden, so will ich meinetwegen das sein,
für das Sie mich halten. Pfui!"
Missis Badsley fand nichts, nicht das geringste.
Und sic hätte doch darauf schwören mögen, daß etwas
mit dem Buch sei. Sie konnte sich eben bei ihren
Begriffen von der guten Gesellschaft eine so reine
goldklarc Natur, wie Anny war, nicht denken
„Ich mußte es ja, mein teures Goldkind,"
heuchelte sic, „glauben Sic wirklich, ich hätte einen
Verdacht gehabt? O wie schlecht kennen Sic mich
Aber ich wollte den Beweis Ihrer Reinheit und
Ihres Edelsinns. Meine Gewissenhaftigkeit, mein
Verantwortlichkeitsgcfühl verlangte ihn. Ich will
ans der Stelle sterben, wenn ich Ihnen mißtraut
habe. Aber ich mußte den Beweis haben, Anny, nm
- anch anderen gegenüber treu und fest zu Ihnen stehen
zu können."
Anny sagte nichts mehr.
Am gleichen Tage noch wurde sic Zeugin einer
Szene, die sehr geeignet war, neue Angst nnd Un-
j ruhe in ihr Gemüt zu werfen.
Sie hörte beim Essen, wie der Rechtsanwalt
I Linning zu ihrem Vater sagte: „Es ist das wahn-
witzigste, was ich jemals in Rcchtshändcln gehört
habe. Die Marquise hat jetzt, nach fast einem Jahr,
die Ausgrabung der Leiche ihres Gatten bei den
Pariser Gerichten beantragt."
„Die Marquise d'Aigre?" fragte Elverdaal. „Und
weshalb?"
„Sie begründet die Forderung mit dem Verdacht,
daß ihr Gatte nicht im Grabe ruhe, überhaupt gar
nicht gestorben sei. Sie macht sich anheischig, einen
Zeugen zn bringen, der ihren Gatten nach seinem
angeblichen Tode in London gesehen habe nnd die
Öffnung des Grabes soll nur stattfiuden, diesen Ver-
dacht entweder zn bestätigen oder zu widerlegen."
„Lächerlich. Tie Marquise hat also den Verstand
verloren."
„Das scheint so. Es kann aber auch sein, die
Sache verhält sich anders. Es kann sein, daß die
Marquise es noch immer nicht aufgegeben hat, ein
Auge auf die ihr entgangene Erbschaft oder doch
einen Teil davon zn werfen. Sic greift diese un-
sinnigen Gerüchte auf, die ihr vermutlich ein arm-
seliger hiesiger Winkeladvokat, den ich nut einer an-
geblichen Forderung von fünfhundert Pfund an Eure
Herrlichkeit abgewiescn, bcigebracht hat, weil sie ihr
die Revision des Erbschaftsprozesses in Aussicht
stellen. Wo kein Toter ist, ist auch kein Erbe, denkt
sie und inszeniert die tollsten Hirngespinste, die jemals
erfunden worden sind."
„Und was wird nun geschehen?"
„Tas hängt zunächst von den Entschlüssen des
Pariser Gerichts ab. Gibt dieses den Anträgen der
Marquise nach, so wird das Grab geöffnet."
„Und dann?"
„Je nun, dann kommt es darauf an, was man
findet. Ist alles in Ordnung, wie ja gar nicht be
zweifelt werden kann, so hat die Marquise ihr Gelv
verschwendet."
„Und-nnd-" Elverdaal wollte
offenbar noch mehr sagen, aber seine Kehle war so
trocken, daß er trotz des Würgens nnd Drängens
nichts mehr hcransbrachte.
„Und erweist sich der Verdacht der Marquise als
richtig, so wird sie daraufhin allerdings nicht zögern,
die Nachlassenschaft des Samuel Scheppers, ihres
Gatten, unter gerichtlichen Schutz stellen zu lassen,
bis sich alles geklärt hat," fuhr Linning ergänzend fort.
„Was heißt das: unter gerichtlichen Schutz stellen?"
fragte Elverdaal, indem er melancholisch seine Ser-
viette zusammeurolltc und ans den Tisch legte.
„Sic wird versiegelt," erklärte Linning kurz.
Elverdaal stand plötzlich vom Tisch ans nnd
wandte sich ab. Er war bleich wie ein Toter ge-
worden, nnd anch seine Augen waren starr wie die
eines Toten.
„Aber das ist natürlich alles dummes Zeug," meinte
Linning beruhigend. „Es wird nie so weit kommen.
Die Absichten der Fran Marquise werden sich ver-
mutlich darauf beschränken, einen kleinen oder größeren
Pump bei Eurer Herrlichkeit zn versuchen, eine Er-
pressung oder vielleicht anch —"
Linning brach ab und sah Anny an.
„Was vielleicht anch?" fuhr ihn Elverdaal
heftig an.
„Hm, es kam mir nur eben die Idee, aber cs
wäre wohl nicht unmöglich, daß die Marquise durch
— hm — durch eine Heirat zwischen den beiden
Familien jeden Grund zn einem Prozesse zn beseitigen
strebt, und da sich diese bisher verzögert — ich weiß
nicht anS welchem Grund, denn das liegt außerhalb
meiner Sphäre — aber offenbar gebt cs der Mar-
quise damit nicht rasch genug, oder sic dünkt ikr zu
unsicher, kurz, sie will eine Situation schaffen, welche
eine solche Heirat als praktische Lösung, oder auch
als notwendigen Schluß erscheinen läßt. Aber ich
sage nicht, daß cs so sei, sondern ich sage mir, cs
könnte so sein."
„Ich will aber wissen, wie es ist," polterte Elver-
daal unsicher nnd eigentümlich hastend hervor. Die
Aufregung, in die ihn diese Nachricht versetzt, äußerte
sich so befremdend, daß er einen InlfloS krankhaften
Eindruck machte. Er taumelte bei den unwillkürlichen
Bewegungen, die er machte, wie ein Mensch, der aus
irgend einer Ursache das Gleichgewicht verloren hat,
und doch hatte er ausnahmsweise an dem Tage noch
nicht zn viel getrunken — vielleicht zn wenig, nm in
seiner Gcwobnhcil zn bleiben
„Soviel ist jedenfalls sicher," fahr ter Rechts-
anwalt fort, „daß die Fran Marquise nicht ans
! reiner Sehnsucht nach ihrem Galten dessen Grab
nochmals öffnen lassen will. ES ist im Gegenteil
wohl anznnehmen, daß das materiellere Gründe hat,
! und daß sic alle Register ziehen wird, um sich ans
! ihrer jetzigen ungewohnten und bedrückten Situation
wieder hcranszubclfen."
„Eben diese Gründe will ich wissen," hastete
i Elverdaal wie gequält heraus, „informieren Sie sich,
! Linning. Was Teufel! Bezahle ich Ihnen jeden
1 Monat Ihre verwünschten Spesenrechnungen, damit