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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 1.1912

DOI issue:
I.2
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Sachs, Hanns: Über Naturgefühl
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https://doi.org/10.11588/diglit.42094#0127
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Ober Naturgefühl.

119

Über Naturgefühl.
Von Dr. HANS SACHS.
Deswegen ist das Gefühl, womit wir an der
Natur hangen, dem Gefühle so nahe verwandt,
womit wir das entflohene Alter der Kindheit und
kindischen Unschuld beklagen.
Friedrich Schiller, Über naive
und sentimentalische Dichtung.
Einem gelang es — er hob den Schleier der
Göttin zu Sais —
Aber was sah er? er sah — Wunder des Wunders,
sich selbst.
Novalis, Die Lehrlinge zu Sais.
\ A7 ~Tenn wir die von Freud aufgestellten zwei Prinzipien des
\ \ / psychischen Geschehens* auf das Verhältnis des Menschen
▼ ▼ zur umgebenden Natur anwenden, müssen wir zu zwei
Möglichkeiten der Einstellung gelangen: im Dienste des Realitäts»
prinzips sucht der Mensch sich vor den Gefahren der Natur zu
sichern, sie zu beherrschen und seinen Bedürfnissen nutzbar zu
machen. Das ursprünglichere Lustprinzip läßt ihn hier wie überall
versuchen, unmittelbar Lust zu gewinnen, ohne den Gedanken an
spätere Folgen und Zwecke. Das Organ solcher Lust, die uns die
Natur ohne Rücksicht auf Kleidung und Nahrung, ja sogar in ihrer
wildesten Entfesselung, mit der sie uns ans Leben zu greifen droht,
gewährt, nennen wir Naturgefühl. Allerdings gibt es noch eine
dritte Möglichkeit der Stellungnahme: die Naturwissenschaft,- diese
ist aber für unsere Untersuchung minder geeignet, da sie ein Ver-
mischungsprodukt jener ersten beiden darstellt. Das Begehren nach
Bändigung der Naturgewalt vermählt sich mit dem aus ursprünglichen
Lustquellen stammenden Forschungstrieb. Unser Objekt bleibt die
von keinem Zweckgedanken berührte Naturlust: wir versuchen also
psychologische Betrachtung eines ästhetischen Problems. Für die Ästhetik
stünde das Naturgefühl des Künstlers und der Ausdruck, den er
ihm in seinem Werke schafft, im Mittelpunkte,- nicht so für uns, die
im Kunstwerk neben dem Problem des Naturgefühls noch ein zweites
sehen, das jenes erste verdeckt und undeutlich macht, nämlich die
drei Fragen nach der Psychologie des Künstlers : Welche Not schafft
ihm das gesteigerte Bedürfnis nach Ausdruck ? Welche Weisung läßt
ihn die Form seines Ausdrucks finden ? Und welches Gesetz zwingt
uns, das mitzuerleben, wofür er Ausdruck, nicht Erkenntnis, gefunden
hat? Wir weichen diesen Fragen aus und bleiben bei dem allge*
meinen Phänomen stehen, wie es zu allen Zeiten und bei allen
Völkern, nicht bloß bei ausgezeichneten Einzelnen, sondern bei jedem
Durchschnittsmenschen, wenn auch in sehr verschiedener Form und
Intensität zu finden ist. Unsere Beispiele werden wir natürlich bei den
Künstlern suchen müssen,- wir wollen sie aber nur als die gedräng-
teste und gelungenste Wiedergabe dessen, was alle Menschen der
Epoche empfanden, verwerten.

Jahrbuch III/i, S. 1 ff.
 
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