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Dr. J. Sadger.
Von der Patfiographie zur Psychographie.
Von Dr. J. SADGER, Nervenarzt in Wien.
I.
Seitdem Morel und Magnan die Symptome derDegenerescence
beschrieben und Lombroso auf den Zusammenhang zwischen
Genie und Wahnsinn, richtiger zwischen Genie und Belastung
hingewiesen hatte, unternahmen verschiedene Neurologen und
Psychiater, ihr spezialistisches Fachwissen an Dichtern, Musikern
und bildenden Künstlern, sowie deren Schöpfungen zu erproben.
Was jeweils als Blüte irrenärztlichen Wissens fachmännische Ge-
hirne bewegte, wurde flugs auf den Genius appretiert und dem
großen Publikum als totsichere Wahrheit vorgesetzt. Dies konnte
um so leichter geschehen, als die meisten Laien, zu welchen ja
Kunstgenießende sowie Kunstrichter fast ausnahmslos gehören, im
Gefühl ihrer psychiatrischen Unzulänglichkeit und vom neuen Lichte
der Wissenschaft geblendet, kaum ernstlich zu widersprechen wagten.
Ein wirkliches Entzücken und innere Freude empfanden sie freilich
ob jenes Beginnens in den seltensten Fällen. Meist fühlten sie nur,
man entweihe ihre angebeteten Götter, ohne die Erkenntnis irgendwie
dadurch zu fördern, daß man dem Abnormen eine wissenschaftliche
Etikette anklebe. Mochte auch M o e b i u s , wohl der Hellsichtigste
und Gedankenreichste der Pathographen, entgegenhalten, die Er-
fahrung lehre, daß beim Genie »neben großen Eigenschaften unven»
kennbare Defekte und bei manchen auch Syndrome vorhanden seien,
die auf den abnormen Grundzustand hinweisen«, daß ferner »in der
Regel bei ungewöhnlichen Leistungen nicht alle Fähigkeiten gesteigert
sind, sondern nur einige, während neben ihnen andere nur normale
oder gar unternormale vorhanden sind«*, mochten kleinere Geister
von der Höhe ihres fachmännischen Wissens herab untrügliche
Seelenkunde verschleißen, dem Laien ward dabei nie recht wohl. Er
empfand nur, man verkleinere seine Genien, ohne doch zu ihrem
inneren Verständnis ein Nennenswertes beizutragen.
Noch mißlicher wurde die Lage dadurch, daß in den aller-
letzten Jahren die in praxi häufigsten Krankheitsformen der Irren-
kunde durch Emil Kraepelin umgeordnet wurden. Seine
Präzisierung und vor allem Ausdehnung der Begriffe Dementia
praecox und manisch-depressives Irresein, ein Beginnen, das heute
noch nicht vollendet und von einer Auflage seines klassischen Lehr*'
buches zur anderen wechselt, setzte nicht nur die Zünftigen, die alle
paar Jahre umlernen mußten, in schwere Pein, sondern richtete auch
unter den Pathographien Verheerungen an. Wer eine auch nur
etwas ältere liest, sogar von namhaften Irrenärzten, z. B. »Die Dan*
Stellung krankhafter Geisteszustände in Shakespeares Dramen« von
Dr. Hans Lähr aus dem Jahre 1898, der wird erstaunen, wie ven*
altet heute seine Anschauungen sind und vollends die Diagnosenstellung.
* »Über Entartung«, Grenzfragen des Nerven-und Seelenleben. Heft 3. 1900.
Dr. J. Sadger.
Von der Patfiographie zur Psychographie.
Von Dr. J. SADGER, Nervenarzt in Wien.
I.
Seitdem Morel und Magnan die Symptome derDegenerescence
beschrieben und Lombroso auf den Zusammenhang zwischen
Genie und Wahnsinn, richtiger zwischen Genie und Belastung
hingewiesen hatte, unternahmen verschiedene Neurologen und
Psychiater, ihr spezialistisches Fachwissen an Dichtern, Musikern
und bildenden Künstlern, sowie deren Schöpfungen zu erproben.
Was jeweils als Blüte irrenärztlichen Wissens fachmännische Ge-
hirne bewegte, wurde flugs auf den Genius appretiert und dem
großen Publikum als totsichere Wahrheit vorgesetzt. Dies konnte
um so leichter geschehen, als die meisten Laien, zu welchen ja
Kunstgenießende sowie Kunstrichter fast ausnahmslos gehören, im
Gefühl ihrer psychiatrischen Unzulänglichkeit und vom neuen Lichte
der Wissenschaft geblendet, kaum ernstlich zu widersprechen wagten.
Ein wirkliches Entzücken und innere Freude empfanden sie freilich
ob jenes Beginnens in den seltensten Fällen. Meist fühlten sie nur,
man entweihe ihre angebeteten Götter, ohne die Erkenntnis irgendwie
dadurch zu fördern, daß man dem Abnormen eine wissenschaftliche
Etikette anklebe. Mochte auch M o e b i u s , wohl der Hellsichtigste
und Gedankenreichste der Pathographen, entgegenhalten, die Er-
fahrung lehre, daß beim Genie »neben großen Eigenschaften unven»
kennbare Defekte und bei manchen auch Syndrome vorhanden seien,
die auf den abnormen Grundzustand hinweisen«, daß ferner »in der
Regel bei ungewöhnlichen Leistungen nicht alle Fähigkeiten gesteigert
sind, sondern nur einige, während neben ihnen andere nur normale
oder gar unternormale vorhanden sind«*, mochten kleinere Geister
von der Höhe ihres fachmännischen Wissens herab untrügliche
Seelenkunde verschleißen, dem Laien ward dabei nie recht wohl. Er
empfand nur, man verkleinere seine Genien, ohne doch zu ihrem
inneren Verständnis ein Nennenswertes beizutragen.
Noch mißlicher wurde die Lage dadurch, daß in den aller-
letzten Jahren die in praxi häufigsten Krankheitsformen der Irren-
kunde durch Emil Kraepelin umgeordnet wurden. Seine
Präzisierung und vor allem Ausdehnung der Begriffe Dementia
praecox und manisch-depressives Irresein, ein Beginnen, das heute
noch nicht vollendet und von einer Auflage seines klassischen Lehr*'
buches zur anderen wechselt, setzte nicht nur die Zünftigen, die alle
paar Jahre umlernen mußten, in schwere Pein, sondern richtete auch
unter den Pathographien Verheerungen an. Wer eine auch nur
etwas ältere liest, sogar von namhaften Irrenärzten, z. B. »Die Dan*
Stellung krankhafter Geisteszustände in Shakespeares Dramen« von
Dr. Hans Lähr aus dem Jahre 1898, der wird erstaunen, wie ven*
altet heute seine Anschauungen sind und vollends die Diagnosenstellung.
* »Über Entartung«, Grenzfragen des Nerven-und Seelenleben. Heft 3. 1900.